Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Der Gesundheitsbasar

Lesezeit: 3 min

Geldverschwendung mit System: Die Patienten haben in Deutschland einen unkontrollierten Zugang zu Ärzten und Kliniken.

Von Henning Adamek

Max Mustermann ist 30 Jahre alt und bei einer deutschen Gesundheitskasse gesetzlich versichert. Seit einigen Wochen plagen ihn gelegentlich leichte, ziehende Bauchschmerzen. Mit Überweisungsschein des Hausarztes geht er in eine gastroenterologische Facharztpraxis und erhält dort eine Darmspiegelung. Es zeigt sich eine wenig ausgeprägte Entzündung, die mit leichten entzündungshemmenden Tabletten behandelt wird. Als die Beschwerden nach drei Monaten nicht abklingen, wendet er sich noch einmal an die Praxis; ihm wird ein Termin in fünf Monaten angeboten. Schneller ginge es, wenn er noch einmal eine Darmspiegelung machen lassen würde. Das findet Max Mustermann nicht gut.

Abends erzählt er im Fitnessstudio von seinen Problemen. Der Trainingsnachbar rät ihm, die Spezialsprechstunde einer Uniklinik aufzusuchen. Auch wenn er dorthin fast hundert Kilometer fahren muss, vereinbart er einen Termin und macht sich drei Wochen später - ausgestattet mit einem weiteren Überweisungsschein seines Hausarztes - auf den Weg. Er wird gründlich untersucht, der Ultraschall gibt Entwarnung, Blut- und Stuhluntersuchungen zeigen keine alarmierenden Befunde. Nach einer ausgiebigen Beratung, mit Hinweisen auf die Ernährung, tritt er die Heimreise an. Die Beschwerden aber werden stärker. Drei Wochen später bittet er den Hausarzt, ihn in diese Spezialklinik stationär einzuweisen. Dort wird nun der gesamte Bauchraum akribisch untersucht. Max Mustermann erhält eine Magenspiegelung, eine Kernspintomografie, mehrmals Ultraschall, es gibt umfangreiche Laboruntersuchungen. Es stellt sich heraus, dass er offensichtlich unter einem Reizdarm leidet. Mit einer Therapieempfehlung fährt er heim; in zwei bis drei Monaten soll er zur ambulanten Sprechstunde kommen.

Doch so rasch stellt sich keine komplette Besserung ein. Max Mustermann bleibt skeptisch. Stimmt die Diagnose? Haben die Ärzte etwas übersehen? Im Internet findet er niederschmetternde Krankheiten, wenn er seine Symptome eingibt. Er spricht mit einem Arbeitskollegen, der ihm dringend rät, ein Bauchzentrum in der benachbarten Kleinstadt aufzusuchen; seine Schwägerin arbeite im Sekretariat des Krankenhauses. Ein Kontakt ist schnell hergestellt, Max Mustermann kann schon in der Woche darauf zum Gespräch kommen. Einen Überweisungsschein brauche er nicht, heißt es, das gehe unkompliziert. Max Mustermann wird eine weitere Spiegelung sowie eine Wiederholung der Kernspintomografie ("um ganz sicher zu gehen") empfohlen. Er soll dafür einen Einweisungsschein vom Hausarzt mitbringen - eine stationäre Aufnahme sei nicht nötig. Nach 14 Tagen dann das Abschlussgespräch: Alle Befunde seien normal.

Darmspiegelung, Ultraschall, Endoskopie - die Politik setzt keine Grenzen

Seit der ersten Darmspiegelung sind sechs Monate vergangen. In dieser Zeit hat der Patient folgende Untersuchungen erhalten: fünfmal Ultraschall, drei endoskopische Untersuchungen, zweimal Kernspintomografie, unzählige Laboruntersuchungen. Die Kosten liegen im hohen vierstelligen Euro-Bereich.

Max Mustermann ist im deutschen Gesundheitssystem eher die Regel als die Ausnahme. Für Patienten besteht ein unkontrollierter Zugang zu den verschiedenen Versorgungsebenen - egal, ob sie einer gesetzlichen oder privaten Krankenkasse angehören. Es gibt keine regionalen Versorgungskonzepte, die sogenannte doppelte Facharztschiene wird immer wieder unterlaufen. In unserem Fall bietet das Bauchzentrum im Krankenhaus - in direkter Konkurrenz zu den Facharztpraxen - kostenlose Sprechstunden mit geringer Wartezeit auf einen Termin an, in der Hoffnung, lukrative Operationen ins Haus zu ziehen. Wenn dann teure Untersuchungen anstehen, versucht man, einen Teil der Kosten über vorstationäre Pauschalen zu finanzieren (daher die nachträglich Bitte um einen Einweisungsschein). Typisch an Max Mustermann ist auch, dass die Wege zum Facharzt inzwischen häufig Empfehlungen im sozialen Umfeld folgen und der Hausarzt nicht mehr der Lotse ist, der er sein soll.

Zweiklassenmedizin war gestern! Heute gleicht das deutsche Gesundheitswesen einem orientalischen Basar. Mit einem guten sozialen Netzwerk gelingt der Zugang zu moderner Diagnostik, auch wiederholt innerhalb eines kurzen Zeitraums. Die Gründe für diese Entwicklung sind so vielschichtig wie einfach: Die Krankenhäuser stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand und versuchen mit allen Mitteln, stationäre Behandlungsfälle abzurechnen. Deshalb werden Patienten über kostenlose Sprechstundenangebote ohne lange Wartezeiten angelockt. Auch wenn ein Teil der Kosten auf prästationäre Pauschalen umgelegt wird, ist das Angebot defizitär.

Wer könnte das Gesundheitssystem wieder in geordnete Bahnen lenken? Man möchte meinen, dass die Lösung auf der Hand liegt: Natürlich die Krankenkassen - weil sie doch diesen Wahnsinn bezahlen müssen. Weit gefehlt! Von den Kosten, die Max Mustermanns Ärzte- und Krankenhausreise verursacht hat, trägt seine Kasse nicht einmal die Hälfte. Die Behandlungen, die korrekt mit einem Überweisungsschein durchgeführt wurden, sind über Festbeträge pauschal abgegolten und für die Ärzte letztlich budgetiert ("gedeckelt"). Die Rechnung der Uniklinik über die stationäre Behandlung wird der Medizinische Dienst der Krankenkasse kürzen, weil er die Notwendigkeit für den stationären Aufenthalt nicht in Gänze anerkennt; die Uniklinik wird auf einem Teil der Kosten sitzen bleiben. Und die Behandlung im Bauchzentrum wird die Krankenkasse maximal eine vorstationäre Tagespauschale kosten, in etwa 125 Euro.

Für die Krankenkassen ist die aktuelle Situation also attraktiv. Ambulante und stationäre Leistungsanbieter befinden sich in direktem Wettbewerb - auch sie werden keine Lösung suchen, die möglicherweise der einen oder der anderen Seite erheblichen finanziellen Schaden zufügen könnte. Die Berufsorganisationen wie die Kassenärztlichen Vereinigungen oder Krankenhauszweckverbände erweisen sich hier als manövrierunfähig.

Die Lösung kann also nur der Gesetzgeber herbeiführen. Das aber fürchten die Gesundheitsminister. Das Gesundheitswesen ist vermintes Terrain und Plattform intensiver Lobbyarbeit. Eine gesundheitspolitische Entscheidung dieser Tragweite wird zwangsläufig Verlierer zurücklassen. Das könnte für Minister und Regierung leicht zum Bumerang werden. Also werden wir weiter mit dem Gesundheitsbasar leben: mit undurchsichtigem Leistungsangebot, unkontrollierten Ausgaben - und einfallsreichen Versicherten, die das System inzwischen verstanden und gelernt haben, sich darin zu bewegen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4232418
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.11.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.