Außenansicht:Denk' ich an Deutschland

Unsere Autorin kam aus den Vereinigten Staaten nach Berlin, um dem Trump-Wahnsinn zu entfliehen und den Kopf für wichtige Themen frei zu bekommen. Das war keine gute Idee.

Von Julianne Smith

Im vergangenen Sommer bin ich nach Berlin gezogen. Ich habe mich darauf gefreut, Washingtons spalterischer und kleingeistiger Politik zu entfliehen und mich auf jemand anderen zu konzentrieren als auf Donald Trump, der jeden Aspekt meines Lebens zu durchdringen schien. Ein Jahr in Berlin, so dachte ich, würde sich wie ein langersehnter Atemzug frischer Luft anfühlen. Kein Gerede mehr über Trumps letzten Tweet auf Kindergeburtstagen. Keine sich im Kreis drehenden Debatten mehr über den Zustand der amerikanischen Demokratie. In Berlin könnte ich meine Zeit mit großen Fragen der Geostrategie verbringen. Ich würde Deutsche und andere Europäer interviewen, die um die Zukunft Europas und der Rechtsordnung ringen. Ich würde an Konferenzen und Debatten teilnehmen, die mir Denkanstöße geben. Ich würde mich inspirieren lassen.

Sieben Monate später und ich bin nicht inspiriert. Ich bin besorgt.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Das Leben in Berlin ist in vielerlei Hinsicht wundervoll. Aber Berlins politischer Stillstand angesichts so vieler existenzieller Fragen über Europas Zukunft ist einfach nervtötend. Genauso wie Berlins Unfähigkeit, politische Antworten auf Herausforderungen aus China, Russland und ja, auch aus meiner eigenen Regierung zu formulieren. Das soll nicht heißen, dass es in Berlins nationaler Sicherheitsgemeinde an frischen Ideen mangelt. Wie in jeder anderen Hauptstadt produzieren auch hier Think Tanks, Akademiker, Journalisten und Wirtschaftsverbände regelmäßig Aufsätze, die voll von Handlungsvorschlägen sind. Aber diese Ideen von der Theorie in die Praxis zu überführen, fühlt sich geradezu unmöglich an.

Es gibt viele Gründe für Berlins politische Lähmung. Zunächst einmal basiert der Führungsstil von Kanzlerin Merkel auf der Idee des Konsenses. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Kanzlerin Deutschlands einzigartige Rolle versteht. Sie zeigt aber auch Verständnis für einige kleinere Länder Europas, die keine Begeisterung für Deutschlands führende Position übrighaben. Deshalb will Merkel auch niemals zu viel Staub aufwirbeln, selbst wenn sie im Dreck stecken bleibt.

Auch Geschichte spielt eine Rolle. Obwohl es den Deutschen immer leichter fällt, über nationale Interessen oder die Entsendung eigener Truppen ins Ausland zu sprechen, entsteht deutsche Außenpolitik immer noch im Schatten der Geschichte. Dann ist da noch die politische Fragmentierung der deutschen Volksparteien, die Christdemokraten und Sozialdemokraten in den Überlebenskampf getrieben hat. In diesem politischen Klima will niemand kühne Vorschläge machen.

Es fehlt ein Ort für strategische Debatten und Entscheidungen. Es fehlt ein nationaler Sicherheitsrat

Abgesehen von Merkels Führungsstil, Deutschlands Vergangenheit und seiner Politik gibt es noch einen anderen Grund, warum das Land keine Antworten auf die sich rapide entwickelnde globale Lage geben kann. In der nationalen Sicherheitsarchitektur fehlt eine Institution für strategische Debatten, Priorisierung und Koordination. Die Verfassung sieht vor, dass Außenpolitik beinahe ausschließlich im Auswärtigen Amt verankert ist. Deutschland hat keinen Nationalen Sicherheitsrat, der regelmäßig Minister versammeln könnte, um strategische Prioritäten zu hinterfragen, abzuwägen und festzulegen.

Diese Art von Problemen in der Staatsführung mag belanglos erscheinen. Aber heutzutage haben es Regierungen mit Bedrohungen zu tun, die die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik verwischen. Deshalb sind Entscheidungsprozesse wichtig. Die richtigen Verfahren können luftige Rhetorik in handfeste Politik verwandeln. Der richtige Prozess kann politische Entscheidungen mit tatsächlich vorhandenen Ressourcen koppeln.

Berlins politische Lähmung führt dazu, dass eines der mächtigsten Länder Europas - wenn nicht das mächtigste - politisch quasi als verschollen gelten muss, und das in einer Zeit großen Wandels und heftiger Umbrüche. In den großen Debatten fehlt die deutsche Stimme. Beispiele: Nach dem Ausstieg der Trump-Regierung aus dem INF-Vertrag hatte Deutschland nichts zu sagen. Auch 2014, als US-Präsident Obama offiziell verkündete, dass Russland den Vertrag verletzt habe, schwieg Deutschland. Abgesehen von ein paar Meinungsäußerungen von Außenminister Heiko Maas, kann niemand sagen, wie Deutschland zu der Frage steht, ob und wie die Nato reagieren sollte.

Beispiel China: Wie eigentlich will Deutschland mit einem Land umgehen, das sich politisch und ökonomisch als Konkurrenz versteht?

Oder nehmen wir China. Deutschland hat die Warnungen der USA gehört, wie gefährlich es ist, mit Huawei Geschäfte zu machen. Nun wird darüber nachgedacht, ob diese Warnungen beachtet werden müssen. Aber wo sind die deutschen Politiker, die sich umfassender mit den großen Herausforderungen beschäftigen, die Chinas Aufstieg verbunden sind? Da wir wissen, dass China sich nicht zu einer freien Marktwirtschaft entwickeln wird: Was ist Deutschlands Strategie, um mit Chinas alternativem politischen und wirtschaftlichen Modell zu konkurrieren? Wo können deutsche Entscheidungsträger zusammenkommen, um einzelne, taktische Entscheidungen mit einem größeres Set an strategischen Ziel in Einklang zu bringen? Ich habe Monate damit verbracht, Politikern diese Fragen zu stellen und warte bis heute auf eine beruhigende Antwort.

Auch in den zunehmend dringlichen Debatten über die Zukunft Europas fehlt Deutschlands Input und Führung. Merkel verteidigt das europäische Projekt bei jeder Gelegenheit. Sie hat, wenn auch etwas widerwillig, ihre Unterstützung für eine Reform der Eurozone und für eine Europäische Armee signalisiert. Aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie wenigstens in ihrer letzten Amtszeit als Kanzlerin - obwohl sie frei ist von den Zwängen einer Wahlkampagne - bereit wäre, große Risiken auf sich zu nehmen.

Das sind schlechte Nachrichten für Europa, das gerade gleichzeitig an zwei Fronten kämpft. Intern versucht Europa, sich gegen Populisten und Kandidaten zu verteidigen, die Europas Einigkeit und Entschlossenheit untergraben wollen. Nach außen wehrt die EU Angriffe von Russland, China (und manchmal auch Donald Trump) ab, die ihren Zusammenhalt und ihre wirtschaftliche Stärke schwächen wollen. Der deutsche Diplomat Thomas Bagger schrieb kürzlich treffend in der Zeitschrift Washington Quarterly: "Deutschlands Antwort auf die existenzielle Frage nach dem zukünftigen Zusammenhalt und dem Zusammenwachsen der EU wird das Schicksal des Europäischen Projekts bestimmen." Deutschlands Antwort muss deshalb mehr sein als Schweigen.

In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, wie gefährlich Hybris für das internationale System ist. Staaten, die beständig ihre Macht und ihren Einfluss überschätzen, bleiben oft im politischen Sumpf stecken. Ich fürchte, dass wir zurzeit genau das Gegenteil beobachten können. Deutschland ist ein Land von immensem Reichtum, wirtschaftlicher Stärke und diplomatischem Gewicht. Und doch unterschätzt es stets seine Fähigkeit, den Ausgang der Geschichte mit zu formen. Nein, Deutschland allein kann den Syrien-Konflikt nicht beenden, Spannungen im Südchinesischen und im Ostchinesischen Meer lösen oder Russland von der Krim vertreiben. Aber es könnte sicher mehr tun, um seine strategischen Fingerfertigkeiten zu stärken, seine Stimme in den maßgeblichen Debatten zu erheben und die dringend benötigte Führung auf dem Europäischen Kontinent anzubieten.

Die Sicherheitspolitikerin Julianne Smith hat in der Obama-Regierung im Weißen Haus und im Pentagon gearbeitet. Momentan forscht sie als Stipendiatin der Robert-Bosch-Academy in Berlin. Übersetzung: Ekaterina Kel

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