Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Das türkische Puzzle

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Recep Tayyip Erdoğan mag ein extrem schwieriger Staatschef sein. Aber es gibt einen Weg für den Umgang mit Ankara.

Von Suat Kınıklıoğlu

Wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum G-20-Gipfel in Hamburg eintrifft ist er wahrscheinlich angespannt. Immerhin verwehrt Deutschland seinen Leibwächtern die Einreise (sie waren kürzlich in Washington in eine Schlägerei verwickelt) und verhinderte, dass er eine politische Kundgebung in Hamburg hält. Die Spannungen zwischen Ankara und Berlin über den Zugang zum Luftwaffenstützpunkt Incirlik haben dazu geführt, dass Deutschland sich von dem Standort zurückzieht. Die anhaltende Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel bleibt ein Dorn in den bilateralen Beziehungen. Und das von Merkels Christdemokraten gerade veröffentlichte Wahlprogramm betont die Ablehnung einer vollen EU-Mitgliedschaft der Türkei. Die Debatte wird vermutlich noch lebendiger werden, wenn die Deutschen im September zur Wahl gehen.

Das alles ist bekannt. Unklar ist aber, wie man mit einem so komplizierten Land umgehen soll, das vor nur wenigen Jahren noch als Partner angesehen wurde.

Die Rolle der Türkei in multilateralen Organisationen und die Beziehungen mit ihren westlichen Verbündeten stehen immer mehr auf dem Prüfstand, seitdem Präsident Erdoğan 2013 seinen autoritären Regierungsstil verstärkte. Europäer und Amerikaner sind oft verwirrt angesichts der giftigen Sprache, die in Ankara gepflegt wird. Während aber der westliche Blick auf die Türkei sehr stark von der säkularen und islamischen Spaltung des Landes geprägt ist - und es gibt keinen Zweifel, dass die Islamisierung der Türkei ernst genommen werden sollte -, gibt es einen anderen Weg, die politischen Entscheidungen in der Türkei zu deuten.

Es ist es absolut zwingend, die Hartnäckigkeit und die Macht des konservativ-nationalistischen Staatsapparats in den Blick zu nehmen. Dieser Apparat hat Erdoğan unter seine Fittiche genommen, als die Zeit dafür gekommen war. Erdoğan hatte kaum eine andere Wahl, als eine Koalition mit dem konservativ-nationalistischen Staatsapparat einzugehen, nachdem seine Gerechtigkeitspartei (AKP) 2015 die Mehrheit im Parlament verloren hatte. Diese Kooperation wurde sichtbar in der radikalen Wende seiner Kurdenpolitik in jenem Jahr. Folglich ist ein großer Teil des Übergangs der Türkei zum Autoritarismus nicht nur Erdoğan zuzuschreiben, sondern auch das Nebenprodukt einer ultranationalistischen Staatselite, die geduldig auf eine Chance gewartet hat, sich an der Politik aus der "liberalen Ära" der AKP zu rächen.

Der konservative Apparat hat die Fänge ausgestreckt, und die türkische Wirtschaft leidet

Zweitens ist Ankaras Außenpolitik, obwohl sicherlich beunruhigend für die westlichen Verbündeten, viel mehr national, trotzig und selbstbezogen. Von Syrien bis zum Irak, von den Flüchtlingen bis zur Anti-Terror-Politik, von Entwicklungshilfe bis Raketenabwehr agiert die Türkei oft nur in der Logik eines Gegengeschäfts und achtet dabei vor allem auf eigene Interessen. Keine Frage: Optik und Sprache sind bestenfalls undiplomatisch. Doch könnte es nicht sein, dass es sich hier um eine türkische Variante des Gaullismus handelt?

In einem seiner letzten Treffen mit dem Vertrauten und Schriftsteller André Malraux, verglich de Gaulle Frankreich angeblich mit "dem Kleinen, der sich nicht von den Großen herumschubsen lässt." Obwohl ich bezweifle, dass Erdoğan jemals etwas über de Gaulles Außenpolitik gelesen hat, zeigt sein außenpolitisches Verhalten Ähnlichkeiten.

Zudem betreibt Erdoğan seine nationalistische, selbstfokussierte Außenpolitik nicht in einem Vakuum. Sie fällt in eine Zeit, in der liberale Demokratien von existenziellen Selbstzweifel gepackt sind und der Arabische Frühling die südliche Nachbarschaft der Türkei in ein Chaos gestürzt hat. Das birgt erhebliche Risiken für die türkische Sicherheit. Hinzu kommt, dass Erdoğan in einem globalen Klima von wachsendem Nationalismus und Nativismus handelt. Von Russland bis Indien, von Ungarn bis Polen und von Brexit bis Trump: Erdoğan sieht sich als Teil einer immer länger werdenden Liste starker Männer, die ihre politische Karriere der Verachtung liberaler Werte verdanken. In Hamburg wird er sich am wohlsten bei seinen bilateralen Treffen mit Trump und Putin fühlen.

Was Erdoğan allerdings nicht merkt: Während der Endphase vor dem türkischen Präsidentialreferendum im April hat er eine kritische psychologische Linie überschritten, als er europäische Staatsführer beschuldigte, Nazi-Methoden angewandt zu haben, um türkischen Abgeordnete den Wahlkampf zu verwehren. Erdoğan sieht das alles als Teil der Referendums-Kampagne und glaubt, dass die Dinge wieder zum Normalen zurückkehren könnten. Schließlich braucht er weitere Investitionen, er möchte seine Beziehung mit Brüssel neu gestalten und er will inständig die Zollunion modernisieren, da die türkische Wirtschaft sehr instabil ist.

Zu Hause werden die Dinge auch nicht besser. Beim "Gerechtigkeitsmarsch" laufen Zehntausende mit Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von Ankara nach Istanbul. Eine neue Entschlossenheit eint die gespaltene türkische Opposition. All das geschieht nur wenige Tage vor dem ersten Jahrestag des versuchten Putschs, der das Land in jeder Hinsicht traumatisiert hat.

Eine kluge westliche Debatte sollte also die zu simple Zweiteilung in eine säkulare und eine islamische Türkei hinter sich lassen. Es ist außerdem nicht hilfreich, alles mit der autoritären Persönlichkeit Erdoğans zu erklären. Schließlich ist es zu einfach, eine türkische Hinwendung zu Russland vorherzusagen, nur weil die Türkei mit Washington im Konflikt über die syrischen Kurden liegt oder mit Deutschland ein Streit über AKP-Kundgebungen vor dem Referendum eskaliert ist. Obwohl ein massiver Bruch zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündeten nicht ganz ausgeschlossen werden kann, braucht es mehr Differenzierung und Verständnis für die Dynamik der türkischen Innenpolitik. Allerdings gilt auch: Ein differenziertes Verständnis kann nicht auf Kosten fundamentaler Werte wie Meinungsfreiheit, Menschen- und Minderheitenrechte und der türkischen Verpflichtung zur kollektiven Verteidigung gehen.

Es sind schwere Zeiten, um eine vernünftige Empfehlung über den Umgang mit der Türkei abzugeben. Wer eine Türkei-Politik plant, muss aber erkennen, was auf dem Spiel steht und wie in Ankara entschieden wird. Angesicht der überraschenden und höchst erfreulichen neuen Stabilität liberaler, demokratischer Politik - etwa in den Niederlanden, in Frankreich und vermutlich im September auch in Deutschland -, wird Europa einen neuen Anlauf in seiner Türkei-Politik nehmen können. Diese Gelegenheit sollte nicht vertan werden.

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Quelle:
SZ vom 07.07.2017
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