Außenansicht:Das Missverständnis

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Friedrich Breyer, 66, lehrt Wirtschafts- und Sozialpolitik an der Universität Konstanz und ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.

(Foto: privat)

Gerade linke Parteien bekämpfen die Kopfpauschale - dabei würde mit ihrer Hilfe eine sozialere Krankenversicherung entstehen.

Von Friedrich Breyer

Die drei Bundestagsparteien des linken Spektrums (Rot-Rot-Grün) haben kürzlich ausgelotet, ob sie sich auf gemeinsame politische Ziele verständigen können. Das Projekt, bei dem die Übereinstimmung am größten war, ist die Einführung einer "Bürgerversicherung", also die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV).

Dieses Ziel ist mehr als verständlich, denn das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung (PKV), das wir in Deutschland praktizieren, ist in der Welt ohne Vorbild und nur durch historische Zufälle erklärbar. Besonders skurril ist die Aufteilung der Personenkreise, für die die beiden Systeme zuständig sind: Ausgerechnet die beamteten Staatsdiener sind de facto zur PKV-Mitgliedschaft gezwungen, weil der Staat sich zwar in Form einer "Beihilfe" an ihren Krankheitskosten beteiligt, aber nicht bereit ist, einen Arbeitgeberbeitrag zur GKV zu leisten. Eine echte Wahlmöglichkeit zwischen GKV und PKV haben nur die ohnehin Privilegierten der Gesellschaft, die gut verdienenden Angestellten. Und zu Recht wird auch die immer noch praktizierte Zwei-Klassen-Medizin mit ihren völlig unterschiedlichen Rationierungsregeln kritisiert.

Auf der anderen Seite ist es fraglich, ob die Bürgerversicherung einfach per Gesetz eingeführt werden kann. Ganz sicher kann es keine sofortige Auflösung der PKV geben, denn in bestehende Verträge der derzeit Versicherten, die im Prinzip lebenslang gelten, kann der Gesetzgeber nicht eingreifen. Bis der letzte PKV-Versicherte gestorben ist, werden aber noch mindestens 70 Jahre vergehen. Es kann also zunächst nur um das Neugeschäft der PKV-Unternehmen gehen. Darf der Gesetzgeber dann wenigstens alle Berufsanfänger in die GKV zwingen? Auch hier ist die Rechtslage eindeutig, denn das wäre ein Verstoß gegen das Grundgesetz, das die Freiheit der Berufsausübung garantiert. Die PKV-Unternehmen könnten also beim Bundesverfassungsgericht klagen und würden sicherlich recht erhalten.

Wie erreicht man also auf legale Weise das Ziel, in Deutschland nach und nach eine Bürgerversicherung zu etablieren? Die Antwort stellt die festgefahrenen politischen Positionen in Deutschland auf den Kopf, denn sie lautet: durch Einführung einer Kopfpauschale in der GKV. Diese Finanzierungsreform gilt zwar spätestens seit dem letzten Einführungsversuch durch den damaligen Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) im Jahr 2010 als politisch gescheitert, weil sie von allen linken Parteien und der CSU vehement bekämpft wurde und noch wird.

Die Einkommenunterschiede würden nicht die Versicherten, sondern alle ausgleichen müssen

Doch diese Gegnerschaft beruht auf einem Missverständnis, weil man übersieht, dass die Kopfpauschale gerade aus sozialer Sicht viele Vorteile hätte. Daher seien drei zentrale Elemente kurz rekapituliert. Erstens: Sie beinhaltet eine Umstellung des Arbeitnehmerbeitrags zur GKV auf einen Pauschalbetrag, in dem sich die Kassen unterscheiden könnten und der daher ein wichtiges Wettbewerbselement wäre; der Arbeitgeberbeitrag könnte lohnbezogen bleiben. Zweitens: Sie sieht eine Anhebung der Grundsicherung um den minimalen Kassenbeitrag vor. Drittens: Die Einführung eines sozialen Ausgleichs im Steuersystem ist vorgesehen, etwa in Form einer Steuergutschrift in Höhe des minimalen Kassenbeitrags pro Erwachsenen (wenn dieser die Steuerschuld übersteigt, wird die Differenz vom Finanzamt an den Haushalt ausgezahlt). Diese Regelung funktioniert in den Niederlanden reibungslos.

So eine Reform hätte zwei Folgen, die auch Politikern linker Parteien gefielen: Unmittelbar wird die Einkommensumverteilung, die heute innerhalb der GKV stattfindet, ins Steuersystem verlagert, sodass auch privat Versicherte sich als Steuerzahler an ihr beteiligen müssten. Auch wird der Wechsel junger Besserverdiener in die PKV unattraktiv, der sich derzeit nur lohnt, weil diese in der GKV stark zur Kasse gebeten werden. Derzeit zahlt ein freiwillig Versicherter in der GKV etwa 355 Euro pro Monat, während die Kopfpauschale bei etwa 150 Euro liegen würde. Wenn aber niemand mehr in die PKV wechselt, obwohl er es dürfte, wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Mit der Zeit wandelte sich die GKV zu einer Bürgerversicherung und die PKV-Unternehmen hätten keinen Grund, dagegen zu klagen.

Wenn die Kopfpauschale aus "sozialer" Sicht so viele Vorteile hat, wie kann es dann sein, dass sie ein unsoziales Image bekommen hat und von allen Parteien der Linken so vehement bekämpft wird? In der Tat eignet sich das System der Kopfpauschalen nicht für Wahlkämpfe mit den typischen Vereinfachungen. Die Kopfpauschale als solche bedeutet, dass jeder Erwachsene den gleichen Beitrag für die Mitgliedschaft in einer bestimmten Krankenkasse zahlt. Verglichen mit dem heute geltenden System des lohnbezogenen Beitrags bedeutet das eine Entlastung derer, die überdurchschnittlich viel verdienen, und eine Mehrbelastung für alle Geringverdiener. In Wahlkämpfen ließ sich also leicht polemisieren - auch von der CSU -, bei der Kopfpauschale zahle der Generaldirektor nicht mehr als seine Sekretärin. Das Argument ist zynisch, weil die meisten Generaldirektoren in der PKV versichert sind und sich gar nicht an den Krankheitskosten ihrer Sekretärinnen beteiligen. Nach Einführung einer Kopfpauschale mit Sozialausgleich würden sie es aber als Steuerzahler tun.

Eine Kopfpauschale darf daher nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur gemeinsam mit dem zugehörigen Sozialausgleich durch das Steuersystem. Genauso funktioniert sie auch in unseren Nachbarländern Schweiz und Niederlande. Man darf auch nicht, wie das die Grünen im Jahr 2010 im Bundestag getan haben, fragen, ob der Finanzminister im Bundeshaushalt genug Geld übrig hat, um den Sozialausgleich zu finanzieren. Denn mit der Abschaffung des lohnbezogenen Kassenbeitrags entsteht ein Spielraum für eine Erhöhung der Steuersätze in der Einkommensteuer, durch die die nötigen Finanzmittel aufgebracht würden. Die Anhebung der Steuersätze fiele sogar geringer aus als die Entlastung bei den Krankenkassenbeiträgen (die derzeit bei 8,5 Prozent liegen), weil die Bemessungsbasis der Einkommensteuer größer ist. Somit würde kein GKV-Versicherter nach der Reform insgesamt mehr zahlen als vorher.

Was müssten die linken Parteien also tun, wenn sie wirklich eine Bürgerversicherung erreichen wollen? Sie müssten über ihren Schatten springen und die Umstellung auf Kopfpauschalen mit Sozialausgleich fordern, am besten mit einem neuen Namen. Oder geht es ihnen am Ende gar nicht um das Ziel, sondern nur um das soziale Image im Wahlkampf?

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