Norbert Blüm über den Eisernen Kanzler:Die Sozialversicherung enthält ein starkes Element der Emanzipation

Lesezeit: 3 min

Otto von Bismarck, 1889 Foto: Scherl /SZ-Photo

Otto von Bismarck, (1815-1898), preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler, im Jahre 1885

(Foto: Scherl/SZ-Foto)

Weltweit sind die Sozialsysteme in Bewegung, sie konvergieren zur kontinentaleuropäischen Sozialversicherung. US-Präsident Barack Obama versucht, das amerikanische Gesundheitssystem auf einer Sozialversicherungsebene zu rekonstruieren. Schweden implementiert in seiner Staatsversicherung stärker die Beitragsfinanzierung.

Selbst die Volksrepublik China experimentiert heute mit Sozialversicherungsmodellen, zum Beispiel in Hainan. Nur in Deutschland gibt es eine geisterfahrende Gegentendenz. Die Riester-Rente war der Versuch, Privatversicherung nicht wie bisher als Ergänzung zur Sozialversicherung zu etablieren, sondern als deren Ersatz. Das ist ein Paradigmenwechsel. Bismarck steht offenbar auf der neoliberalen Abschussliste.

Privatversicherung führt, wenn sie als Ersatz für eine Sozialversicherung eingeführt wird, paradoxerweise zu mehr Staat. Das Niveau der Rentenversicherung nähert sich Schritt für Schritt dem Niveau der staatlichen Sozialhilfe. Dadurch steigt die staatlich finanzierte Grundrente. Je mehr Grundrentenbezieher es gibt, umso schwächer wird die Legitimation der beitragsbezogenen Alterssicherung.

Warum Beitrag zahlen, wenn ohne Beitrag die Grundrenten gleich oder gar noch höher sind als ein Großteil der Versicherungsrenten? Es gehört zur List der Dialektik, dass jene, die als Privatisierer auszogen, mit zerrissenen Hosenbeinen als Verstaatlicher heimkehren. Der staatliche Mindestlohn ist die logische Folge einer Kampagne gegen die Tarifautonomie, (sie wurde als "Tarifkartell" verleumdet), die zur Schwächung der Tarifpartnerschaft führte.

Geniale Konstruktion

Der Abbau der Arbeitslosenversicherungen durch Verkürzung der Bezugszeiten des Arbeitslosengeldes hat mehr steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen durch Hartz IV im Gefolge.

Die Sozialversicherung enthält ein starkes Element der Emanzipation: Beitragsfinanzierte Sozialleistung ist kein "Almosen", sondern selbst verdient. Nicht mehr das Wohlwollen der Obrigkeit bestimmt ihr Maß, sondern die Beitrags(vor)leistung der Versicherten. Rente ist Alterslohn, der im proportionalen Verhältnis zur Lebensleistung steht.

In das beitragsbezogene Umlagesystem ist ein Verteilungsmechanismus von lebenspraktischer Klugheit eingebaut. In dem Maße, in dem die Jüngeren die Älteren mit ihren Beiträgen finanzieren, erwerben sie Ansprüche an die nachfolgende Generation: Wie du jetzt den Älteren, so später die Jüngeren dir gegenüber. Die Genialität dieser Konstruktion verknüpft die Eigenvorsorge der Jungen mit der Sorge für die Alten.

In der paritätischen Beitragszahlung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist die Selbstverwaltung begründet. Selbstverwaltung ist die Quelle partnerschaftlicher Sozialkultur. In der Selbstverwaltung lernten sich einst die Klassenfeinde kennen und schätzen. Die Arbeitnehmer lernten, dass die Arbeitgeber keine Menschenfresser sind, und die Arbeitgeber erlebten, dass Arbeitnehmer auch mit Messer und Gabel essen können. Alte ressentimentbeladene Schablonen brachen in der praktischen Kooperation zusammen.

Am Beginn dieser Entwicklung steht der Bismarck'sche Sozialstaat. In seiner Entfaltung verwirklicht sich das in der christlichen Soziallehre konzipierte Prinzip der Subsidiarität. Subsidiarität ist das Gliederungsprinzip der Solidarität, die es gegen neoliberale und marxistische Missverständnisse abgrenzt. Subsidiarität erspart uns die harte Alternative: privat oder staatlich.

Als Vorfahrtsrecht für die jeweils kleinere Gemeinschaft schafft Subsidiarität Raum für eine gegliederte Gesellschaft. Im Zeitalter einer uniformierenden Globalisierung ist sie das modernste freiheitssichernde Prinzip, sie schützt vor Nivellierung. Das zeigt: Bismarck bleibt auch heute noch modern.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema