Norbert Blüm über den Eisernen Kanzler:Bismarck bleibt modern

Festakt zu 20 Jahre Pflegeversicherung

Norbert Blüm, 79, war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Bis 2000 war er außerdem stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU.

(Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Otto von Bismarck schuf mit der Kranken-, der Unfall- und der Rentenversicherung das Fundament des Sozialstaates Deutschland. Ohne die Erfindung der Sozialversicherung im Kaiserreich wäre eine moderne Marktwirtschaft nicht möglich.

Gastbeitrag von Norbert Blüm

Zum 200. Geburtstag von Otto von Bismarck an diesem Mittwoch ist an einen oft vergessenen Zusammenhang zu erinnern: Ohne Bismarck wäre Ludwig Erhard nicht möglich gewesen - und ohne Sozialstaat gäbe es keine Marktwirtschaft. Markwirtschaft im modernen Sinn wurde erst nach Erfindung des Sozialstaates möglich.

Erst nachdem die großen Risiken Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität aus dem Betrieb externalisiert und von sozialstaatlichen Institutionen aufgefangen worden waren, konnte sich eine unternehmerische Ratio entfalten, die sich im Wertbereich bewährte und auf Gewinn hin orientierte.

Repression und Zuwendung

Bismarck schuf mit der Kranken- (1883), der Unfall- (1884) und der Rentenversicherung (1889) das Fundament des Sozialstaates Deutschland. Die heimatlosen Handwerksburschen und die entlaufenen Bauernsöhne bildeten die Reservearmee des beginnenden Industriezeitalters. Die einen waren vom Schutz der Zünfte, die anderen von der Fürsorge der Grundbesitzer "befreit". Die neuen Proletarier waren jedoch nicht mehr so gefügig wie die Untertanen der Feudalzeit.

Die alte Staatsgewalt stand relativ rat- und hilflos den neuen Kräften der Arbeiterschaft gegenüber. Bismarck schwankte zwischen Repression und Zuwendung und entschied sich schließlich für beides: Sozialistengesetz und Sozialversicherung waren Peitsche und Zuckerbrot der Bismarckschen Innenpolitik.

Bismarck schwächte mit den Sozialgesetzen nicht, wie die beabsichtigt, die Sozialdemokratie. Und die Sozialdemokraten selbst, die anfangs noch gegen die Sozialversicherung votiert hatten, wurden später zu einem ihrer wichtigsten Träger.

So zeigt die Geschichte des Sozialstaates auch, wie sich einerseits Mittel von ihren Zielen emanzipieren und andererseits Ziele ihre Mittel verändern. Sozialdemokraten und Gewerkschaften entschieden sich gegen Karl Marx: Nicht "Kampf gegen das Lohnsystem", sondern "Kampf im Lohnsystem". Der Bismarck'sche Sozialstaat baute ihnen Brücken. Seine historische Bedeutung geht daher weit über die eigentliche Sozialpolitik hinaus.

Bismarck standen bei seiner Sozialreform drei Modelle zur Auswahl: das private, das staatliche und das genossenschaftliche, also eine Sozialversicherung als solidarische Selbsthilfe, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht. Jede dieser drei Grundformen findet sich in unterschied- lichen nationalen Sozialkulturen, keine allerdings in Reinkultur.

Das amerikanische System ist im Kern privatversicherungsrechtlich organisiert, wird aber durch fürsorgende Elemente flankiert. Der skandinavische Sozialstaat ist versorgungsstaatlich organisiert und wird dementsprechend vorwiegend durch Steuern finanziert. Kontinentaleuropäisch dominiert das Bismarck'sche Modell der beitragsbezogenen Sozialversicherung.

Die Sozialversicherung enthält ein starkes Element der Emanzipation

Otto von Bismarck, 1889 Foto: Scherl /SZ-Photo

Otto von Bismarck, (1815-1898), preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler, im Jahre 1885

(Foto: Scherl/SZ-Foto)

Weltweit sind die Sozialsysteme in Bewegung, sie konvergieren zur kontinentaleuropäischen Sozialversicherung. US-Präsident Barack Obama versucht, das amerikanische Gesundheitssystem auf einer Sozialversicherungsebene zu rekonstruieren. Schweden implementiert in seiner Staatsversicherung stärker die Beitragsfinanzierung.

Selbst die Volksrepublik China experimentiert heute mit Sozialversicherungsmodellen, zum Beispiel in Hainan. Nur in Deutschland gibt es eine geisterfahrende Gegentendenz. Die Riester-Rente war der Versuch, Privatversicherung nicht wie bisher als Ergänzung zur Sozialversicherung zu etablieren, sondern als deren Ersatz. Das ist ein Paradigmenwechsel. Bismarck steht offenbar auf der neoliberalen Abschussliste.

Privatversicherung führt, wenn sie als Ersatz für eine Sozialversicherung eingeführt wird, paradoxerweise zu mehr Staat. Das Niveau der Rentenversicherung nähert sich Schritt für Schritt dem Niveau der staatlichen Sozialhilfe. Dadurch steigt die staatlich finanzierte Grundrente. Je mehr Grundrentenbezieher es gibt, umso schwächer wird die Legitimation der beitragsbezogenen Alterssicherung.

Warum Beitrag zahlen, wenn ohne Beitrag die Grundrenten gleich oder gar noch höher sind als ein Großteil der Versicherungsrenten? Es gehört zur List der Dialektik, dass jene, die als Privatisierer auszogen, mit zerrissenen Hosenbeinen als Verstaatlicher heimkehren. Der staatliche Mindestlohn ist die logische Folge einer Kampagne gegen die Tarifautonomie, (sie wurde als "Tarifkartell" verleumdet), die zur Schwächung der Tarifpartnerschaft führte.

Geniale Konstruktion

Der Abbau der Arbeitslosenversicherungen durch Verkürzung der Bezugszeiten des Arbeitslosengeldes hat mehr steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen durch Hartz IV im Gefolge.

Die Sozialversicherung enthält ein starkes Element der Emanzipation: Beitragsfinanzierte Sozialleistung ist kein "Almosen", sondern selbst verdient. Nicht mehr das Wohlwollen der Obrigkeit bestimmt ihr Maß, sondern die Beitrags(vor)leistung der Versicherten. Rente ist Alterslohn, der im proportionalen Verhältnis zur Lebensleistung steht.

In das beitragsbezogene Umlagesystem ist ein Verteilungsmechanismus von lebenspraktischer Klugheit eingebaut. In dem Maße, in dem die Jüngeren die Älteren mit ihren Beiträgen finanzieren, erwerben sie Ansprüche an die nachfolgende Generation: Wie du jetzt den Älteren, so später die Jüngeren dir gegenüber. Die Genialität dieser Konstruktion verknüpft die Eigenvorsorge der Jungen mit der Sorge für die Alten.

In der paritätischen Beitragszahlung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist die Selbstverwaltung begründet. Selbstverwaltung ist die Quelle partnerschaftlicher Sozialkultur. In der Selbstverwaltung lernten sich einst die Klassenfeinde kennen und schätzen. Die Arbeitnehmer lernten, dass die Arbeitgeber keine Menschenfresser sind, und die Arbeitgeber erlebten, dass Arbeitnehmer auch mit Messer und Gabel essen können. Alte ressentimentbeladene Schablonen brachen in der praktischen Kooperation zusammen.

Am Beginn dieser Entwicklung steht der Bismarck'sche Sozialstaat. In seiner Entfaltung verwirklicht sich das in der christlichen Soziallehre konzipierte Prinzip der Subsidiarität. Subsidiarität ist das Gliederungsprinzip der Solidarität, die es gegen neoliberale und marxistische Missverständnisse abgrenzt. Subsidiarität erspart uns die harte Alternative: privat oder staatlich.

Als Vorfahrtsrecht für die jeweils kleinere Gemeinschaft schafft Subsidiarität Raum für eine gegliederte Gesellschaft. Im Zeitalter einer uniformierenden Globalisierung ist sie das modernste freiheitssichernde Prinzip, sie schützt vor Nivellierung. Das zeigt: Bismarck bleibt auch heute noch modern.

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