Außenansicht:Wie die Flüchtlingskrise Deutschlands Wohnungsnot beenden könnte

Olympisches Dorf

Blick über das Dach des Münchner Olympia-Stadions auf das Olympische Dorf.

(Foto: Florian Peljak)
  • In den nächsten Jahren werden aufgrund des Flüchtlingszuzugs in Deutschland etwa 350 000 bis 400 000 Wohnungen zusätzlich benötigt.
  • Der erhöhte Bedarf könnte den ohnehin zu schwachen Wohnungsbau in Deutschland wieder in Gang bringen.
  • Vorbild könnten die inzwischen immer auch zur Nachnutzung konzipierten Olympiadörfer sein.

Von Thomas Jocher

Deutschland muss mehr als eine Million Flüchtlinge unterbringen. Um die sehr große Nachfrage nach Wohnraum bewältigen zu können, muss man ungewohnte Alternativen zulassen. Schätzungen zufolge werden nach Abzug jener Menschen, die kein Asylrecht erhalten oder wieder in ihre Heimat zurückkehren, in den nächsten Jahren etwa 350 000 bis 400 000 Wohnungen zusätzlich benötigt, fast die Hälfte davon als große, familiengerechte Wohnungen.

Die Zahlen erscheinen zwar zunächst hoch, doch der Bedarf würde damit nicht höher liegen als bei der letzten großen Kraftanstrengung im Wohnungsbau Anfang der 1990er-Jahre, als nach der deutschen Einheit neben den innerdeutschen Wanderungsströmen auch der Zuzug von Russlanddeutschen, Balkanflüchtlingen und sonstigen Asylbewerbern zu bewältigen war.

Zur Person

Thomas Jocher, 63, ist Architekt und Direktor des Instituts Wohnen und Entwerfen der Universität Stuttgart.

Wichtig ist, dass wir jetzt keine neuen Ghettos planen, keinen Wohnraum zweiter Klasse bauen. Alle Lösungen müssen nachhaltig geplant und ausgeführt werden und vor allem die potenzielle Nachnutzung einkalkulieren. Vielerorts angekündigte Billigbauten wie in Bayern mit reduzierten Standards sind keine Lösung. So werden nur Baukosten in die Zukunft verlagert. Vielleicht spart man zu Beginn einige Euros bei der Erstellung - ein Mehrfaches wird dann im Unterhalt und für Nachbesserungen fällig. Das beste Beispiel hierfür sind die in großer Wohnungsnot hochgezogenen Nachkriegsbauten. Diese Häuser, soweit nicht ohnehin längst abgerissen, erfordern jetzt zur zeitgemäßen Nachrüstung viel Geld. Diese Erfahrung muss man nicht wiederholen. Zur Lösung der außerordentlichen Wohnungsnachfrage gibt es prinzipiell drei Lösungen:

Fertighausfabriken könnten ihr Wissen einbringen

Erstens: die schnelle, hochriskante Lösung mit experimentellen Gebäuden in serieller Modulbauweise. Temporär ausgeführt in einer ungewohnten, im Normalfall inakzeptablen Umgebung etwa in einem unwirtlichen Gewerbegebiet oder einem verlärmten Gleisdreieck? Oder am Rand eines Naturschutzgebiets? In allen Fällen aber nicht zur dauerhaften Nutzung, sondern zeitlich genau befristet und vor allem rückbaubar konzipiert.

Das beste Beispiel einer temporären Nutzung ist das olympische Dorf in der kleinen Stadt Lillehammer in Norwegen. Ausgeführt für die Olympischen Spiele 1994. Nach den Spielen wurden die Gebäude großflächig ab- und wieder neu aufgebaut - an verschiedenen Orten in Norwegen, beispielsweise als Studentenwohnungen. Ich habe in diesen Systemhäusern selbst gewohnt. Mit einem erstklassigen Wärme- und Schallschutz, der auch bei minus 20 Grad Außentemperatur wirkte. Könnten da nicht zusätzlich die auf Serienproduktion vorbereiteten Fertighausfabriken schnelle Lösungen bieten und ihr umfangreiches Wissen über den Bau frei stehender Einzelgebäude auch auf preisgünstige Geschosswohnungen übertragen?

Die Vorstellung, auf dem Land gebe es keine Jobs, ist "schlicht falsch"

Zweitens: die mittlere, naheliegende Lösung. In Deutschland stehen etwa 1,7 Millionen Wohnungen leer. Davon könnte sich etwa ein Fünftel bis ein Viertel relativ schnell mit vertretbarem Aufwand aktivieren lassen. Aber viele Wohnungen stehen an der falschen Stelle. Oft sind sie auch in privatem Besitz. Enteignungen sind politisch brisant, schwierig und nur langfristig durchzusetzen. Zudem ist noch völlig unklar, wohin die Flüchtlinge ziehen werden. Bleiben sie am Ort der Erstaufnahme? Folgen sie dem Arbeitsmarkt oder einfach einem preiswerten Wohnungsangebot, sei es noch so weit entfernt?

Empirica, ein führendes Forschungsinstitut, unterstreicht immerhin, dass die Vorstellung, auf dem Land gebe es keine Jobs, "schlicht falsch" sei. Aufgrund der breiten räumlichen Streuung der Leerstände wäre bei dieser Lösung die Gefahr der Ghettoisierung gering. Zudem könnten die leer stehenden Wohnfolgeeinrichtungen in den Städten wieder aktiviert werden. Viele Kindergärten und Schulen mussten in der Vergangenheit aufgrund des Kindermangels geschlossen werden. Die Ersparnis bei Aktivierung dieser Bestandsgebäude oder auch mithilfe von Ergänzungsbauten (Nachverdichtung) inmitten bestehender Quartiere wäre erheblich und müsste bei der Gegenüberstellung mit anderen Lösungen positiv bilanziert werden. Im Rahmen dieses Modells könnten auch verschiedene soziale Gruppen sehr viel besser integriert werden.

Überbelegung wäre anfangs kein Problem

Drittens: die langsame, grundsolide Lösung. Mit ganz normalen Wohnungen - allerdings anfangs mit einer sehr viel dichteren Belegung. Ohnehin liegt die mittlere Haushaltsgröße bei Flüchtlingshaushalten um nahezu 100 Prozent über den in Deutschland üblichen etwa zwei Personen. Die Wohnungen sollten im Idealfall in einer städtisch geprägten Umgebung entstehen, aber auch Standorte im ländlichen Raum wären bei einer guten Erreichbarkeit mit Bussen und Bahnen nicht ausgeschlossen.

Die anfängliche dichtere Belegung ist sehr einfach zu erreichen. Beispielsweise könnten in den Kinderzimmern Stockbetten anstelle üblicher Betten aufgestellt werden. Die erstmalige Überbelegung ist zudem ein gängiges Merkmal aller olympischen Dörfer, um den kurzzeitigen Ansturm der Sportler zu bewältigen. 1972 waren in München mehr als 10 000 Sportler untergebracht. Jetzt wohnen hier nur noch gut die Hälfte Bewohner in ganz normalen Wohnungen.

In zwei Jahren könnten die Häuser fertiggestellt werden

Alle olympischen Dörfer unserer Zeit sind deshalb in erster Linie für eine dauerhafte Nachnutzung konzipiert. Ich wohne selbst seit 30 Jahren als unsportlicher Nachnutzer in einer sportlichen Wohnung im olympischen Dorf in München. Die Nachnutzung der Wohnungen für Flüchtlinge könnte vielerorts endlich den deutschlandweit brach liegenden sozialen Wohnungsbau aktivieren. Bei sofortigem Planungsbeginn könnten diese soliden Häuser durchaus in zwei Jahren fertiggestellt werden. Hier könnte endlich auch einmal die Verdichtung städtischer und ländlicher Räume intensiv diskutiert werden. So wie die Verdichtung in der ganzen Schweiz zurzeit intensiv diskutiert und in Zürich mit der "2000-Watt-Gesellschaft" bereits mit Erfolg realisiert wird.

In Deutschland könnten Erleichterungen beim Baurecht, beispielsweise mit reduzierten Abstandsflächen oder Stellplatzschlüsseln dienen. Sicher nicht jede Flüchtlingsfamilie benötigt einen eigenen Autostellplatz. Noch immer ist diese Baupflicht in den meisten Kommunen zwingend erforderlich.

Selten ist uns der Wert einer eigenen, sicheren Wohnung deutlicher vor Augen geführt worden als heute. Selten sind aber auch die Fragen nach dem Wert und der Nachhaltigkeit einer Wohnung deutlicher gestellt worden. Haben wir jetzt nicht die Riesenchance, den Wohnungsbau in alle Richtungen wieder kräftig anzustoßen?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: