Außenansicht:Aus der Zeit gefallen

Claus Leggewie

Claus Leggewie, 66, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts und Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen.

(Foto: Marcel Kusch/dpa)

Die Sozialdemokratie droht, ihre Regierungsfähigkeit zu verlieren. Doch sie kann etwas dagegen tun.

Von Claus Leggewie

Die Sozialdemokratie hat sich historisch als Partei der sozialen Gerechtigkeit formiert. Insofern ist es auch für Nicht-Parteigänger besorgniserregend, wenn die SPD, wie ihre Schwestern in anderen Ländern, an Regierungs- und Gestaltungsfähigkeit einzubüßen droht. Das Gefühl vieler Menschen, ungerecht behandelt zu werden, kommt überwiegend rechtspopulistischen Parteien zugute. Personaldiskussionen und Flügelkämpfe werden diese Abwanderung kaum stoppen, es geht um eine Programmreform und neue Wählerschichten.

Das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts hat der Liberale Ralf Dahrendorf schon auf die frühen 1980er-Jahre datiert, als in vielen Industrieländern der wohlfahrtsstaatliche Konsens zerbrach und marktradikale Parolen verfingen, immer mit einem klaren Affekt gegen die Umverteilungschancen des Steuerstaats für soziale Aufsteiger. Dahrendorfs scharfe Zeitdiagnose lautete: "Das sozialdemokratische Programm ist attraktiv. Nur eben: Es ist ein Thema von gestern. Das gilt nicht nur, weil ungewollte Entwicklungen den Annahmen dieses Themas den Boden entzogen haben. Es gilt vor allem, weil das Thema seine Möglichkeiten erschöpft hat."

(Sozial-)Demokraten wie Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder stellten vor allem Wirtschaftskompetenz heraus ("It's the economy, stupid!"), setzten auf Deregulierung plus Flexibilisierung und bauten den Sozialstaat um, in voller Fahrt. Dabei ging ihre traditionelle Klientel größtenteils verloren an links- und rechtspopulistische Gruppen, die nun gegen Globalisierungskonkurrenz und Einwanderung mobil machen und sich erst in der Linken und im Lager der Nicht-Wähler sammelten, nun vor allem bei der AfD. Noch wichtiger ist eine andere Bruchstelle. Die Sozialdemokraten konnten auch den Aufbruch der neuen sozialen Bewegungen im linksbürgerlichen Milieu nicht für sich nutzen und schufen sich so die grüne Konkurrenz.

Unter der Dreispaltung leidet die europäische Sozialdemokratie bis heute, ihre Mitglieder und Anhänger schrumpften auf einen harten Kern von Facharbeitern und Bildungsaufsteigern und konzentrierten sich zunehmend auf ältere Jahrgänge. Die SPD hat vor allem zwei Angebote: Abitur und Vollzeitbeschäftigung, also mehr Bildungsgerechtigkeit und Schutz vor Prekarisierung. Durchkreuzt wird das dadurch, dass in fast allen reichen Ländern Einkommen und Vermögen immer ungleicher verteilt sind und die digitale Arbeitswelt kaum noch Planstellen bereithält. Der Fahrstuhl klemmt, der Aufsteiger bis in die 1970er-Jahre recht geschmeidig nach oben beförderte; Betroffene von Prekariat, Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut steigen frustriert aus der Sozialdemokratie aus. Die Empörung über die soziale Ungerechtigkeit durch Steuerflucht und Steuerhinterziehung, die gerade das Etikett "Panama" trägt, kommt der Sozialdemokratie kaum noch zugute.

Die SPD muss das Industriezeitalter endlich hinter sich lassen

Die Ausgeschlossenen empfinden die einstige Garantin sozialer Gerechtigkeit offenbar auch als Hort der Besitzstandswahrung. Das Körnchen Wahrheit daran ist, dass die SPD auf die Gegenwart fixiert bleibt und das große Thema der planetarischen und intergenerationellen Gerechtigkeit zu wenig im Blick hat. Gerechtigkeit heute bedeutet, den Solidaritätsrahmen des Nationalstaats zu übersteigen. Die zeitliche Dimension ist es, ein gutes Leben auch den Kindern und Kindeskindern zu sichern. Welt- und Naturverhältnisse gebieten es, die Gegenwartsfixierung der Politik zu überwinden und Chancen für künftige Generationen zu kreieren.

Wer weiter den rhetorischen Gegensatz von Ökologie und Ökonomie pflegt, wird aus der Zeit fallen. Am deutlichsten zeigt sich das im Umwelt- und Klimaschutz, der vom Rand- zum Hauptthema geworden ist. Die im Herbst 2015 in Paris beschlossenen Klimaziele und die in New York vereinbarten Nachhaltigkeitsziele werden in der deutschen Debatte (auch von den Grünen) unterschätzt. So rasch wie möglich müssen wir aus der Braunkohle aussteigen und die Stromproduktion rasch und vollständig auf Erneuerbare umstellen - ein Ziel, das sich jetzt schon rechnet und enormes ökonomisches Potenzial hat.

Dies gilt analog für viele Industriebranchen, an denen Deutsche derzeit noch hängen. Doch fast sklavisch hält die SPD an ihnen fest, statt beherzt wirtschaftliche Alternativen und Konversionen zu fördern. Auch und gerade wer Arbeitsplätze für genauso wichtig erklärt wie den Klimaschutz, muss anerkennen, dass die gesunden, nachhaltigen, sinnvollen davon in einer ökologischen Weltwirtschaft liegen, während die rostigen Tanker des Industriezeitalters auf Grund laufen werden.

Seltsam ist auch, wie eng Sozialdemokraten Sozialpolitik verstehen: Grundeinkommen und öffentliche Unternehmen, darunter Genossenschaften, die doch den sozialen Bewegungen und Reformkräften des 19. Jahrhunderts entstammen, spielen kaum eine Rolle, dabei gehören sie eng zur Sicherung des Mindestlohns und der Vermeidung von Altersarmut durch "sichere Renten". Auch die Familienpolitik scheint zu stark auf die (berechtigten) Ansprüche von Frauen im heutigen Berufsleben statt auf die von Mädchen in zwanzig, dreißig und mehr Jahren ausgerichtet zu sein.

Sozialdemokraten müssen Antworten finden, wie wir dann in Europa leben wollen und wie die Welt gerechter werden kann. Die Grundregel sollte sein, dass wir Kindern und Kindeskindern mindestens die gleichen Ressourcen bieten, über die wir Heutigen verfügen. Und wer ganz auf die Fantasie und Innovation der Künftigen setzt, muss ihnen die dafür notwendigen Infrastrukturen zur Verfügung stellen.

Die scheinbar technische Frage, über welche Rohstoffbudgets die Menschheit (noch) verfügt und wie viele Emissionen (noch) erlaubt sind, um gefährliche Umweltrisiken zu vermeiden, akzentuiert das uralte Gerechtigkeitsproblem neu. Wir sind (nach dem Gleichheitsprinzip) alle Bürger einer Welt und müssen (besagt das Vorsorgeprinzip) nach unseren jeweiligen Möglichkeiten deren Erhaltung und Entwicklung sicherstellen. Im Sinne des Verursacherprinzips sind vor allem jene dazu aufgerufen, die in der Vergangenheit die größten Schäden verursacht haben, und die daraus gewonnenen Gewinne und Vorteile an die heute und morgen Betroffenen zurückzuleiten. Dekarbonisierung und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen.

Eine konsequente Ausrichtung der Politik auf 2030, 2050 oder 2100 lässt sich auf Themen wie Migration und Finanzkrise übertragen. Die Sozialdemokratie ist ein Kind des Industriezeitalters, das sie, genau wie die Menschheit insgesamt, hinter sich lassen muss, um künftigen Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen.

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