Außenansicht:Aufgebläht

Lesezeit: 4 min

Wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten wird der nächste Bundestag wohl der größte der Geschichte. Zeit für eine Reform.

Von Joachim Behnke

Die Anzeichen mehren sich, dass der neue Bundestag der größte in der Geschichte der Bundesrepublik werden könnte. Geht man von den derzeitigen Umfragen aus, nach denen die CDU/CSU ungefähr 36 Prozent der Zweitstimmen erhält, die SPD 22 Prozent und die kleinen Parteien auf jeweils acht und elf Prozent kommen, dann werden künftig wohl zwischen 680 und 700 Abgeordnete im Parlament sitzen. Sollte die CDU/CSU unter der 36-Prozent-Marke landen oder die SPD unter 22 Prozent kommen oder sollten noch mehr Wähler anderer Parteien ihre Erststimme der CDU geben, dann könnte auch die 700er-Grenze fallen. Der bisherige Rekord wurde 1994 erreicht und lag bei 672 Mandaten. Ein Bundestag mit mehr als 672 Sitzen wäre aber nicht nur der größte, den es je gegeben hat, er wäre auch deutlich größer als das Parlament Indiens und außerdem das drittgrößte Parlament der Welt, nach den Volksvertretungen Chinas und Nordkoreas, mit denen sich die Bundesrepublik üblicherweise nicht vergleicht. Einen Bundestag dieser Größenordnung kann man wohl als Monstrosität bezeichnen.

Ein derart aufgeblähtes Parlament würde viele Nachteile mit sich bringen. Die Verkleinerung der regulären Parlamentsgröße von 656 auf 598 Sitze wurde 1995 auch als Reaktion auf das Riesenparlament von 1994 beschlossen und damit begründet, dass ein derart großer Bundestag zu Effizienzverlusten bei der parlamentarischen Arbeit führen muss. Außerdem wird das Volk in einem größeren Bundestag nicht besser repräsentiert. Schließlich ist auch das finanzielle Argument zu beachten. Es wird erfahrungsgemäß ungern von Politikern thematisiert, spielt aber eine umso wichtigere Rolle in der öffentlichen Diskussion und für Rechnungshöfe und Steuerzahler. Selbst wenn man dem Parlament mit der denkbar freundlichsten Einstellung gegenübersteht und es so großzügig wie möglich ausstatten will, kommt man nicht an der Einsicht vorbei, dass ein sehr großer Bundestag, der nicht besser ist als ein kleinerer, in jedem Fall ein zu teurer Bundestag ist.

Weniger Wahlkreise wären eine Möglichkeit, den Bundestag zu verkleinern

Die Ursache für die Vergrößerung des Bundestags liegt im neuen Wahlrecht von 2013. Dieses Recht schreibt vor, dass Überhangmandate einer Partei mit Ausgleichsmandaten für andere Parteien kompensiert werden müssen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr dort aufgrund ihres Anteils an Zweitstimmen eigentlich zustehen. Überhangmandate verzerren also den Proporz zwischen den Parteien und verstoßen so gegen die Chancengleichheit. Ausgleichsmandate stellen diese Chancengleichheit wieder her. Der Ausgleich ist aber, wie sich zeigt, mit dem Risiko verbunden, dass es unter ungünstigen Umständen zu einer extremen Vergrößerung des Bundestags kommen kann. Tatsächlich war das Problem seit Längerem bekannt und wurde mehrfach thematisiert, nicht zuletzt durch den scheidenden Bundestagspräsidenten Norbert Lammert. Der hatte eine Reform schon zu Beginn der jetzt zu Ende gegangenen Legislaturperiode gefordert. Aus seinem Umfeld kam im vergangenen Jahr der Vorschlag, die Größe des Bundestages auf 630 Sitze zu begrenzen. Diesen Vorschlag hatte die CDU allerdings so interpretiert, dass CDU und CSU alle Sitze einschließlich der Überhangmandate behalten würden und Ausgleichsmandate für die anderen Parteien nur so lange anfielen, bis die Grenze von insgesamt 630 Mandaten erreicht wäre. Hätte man den Vorschlag in dieser Form 2016 tatsächlich beschlossen, wäre der nächste Bundestag aber aller Voraussicht nach verfassungswidrig gewesen. Es würden dann höchstwahrscheinlich immer noch mehr als 20 unausgeglichene Überhangmandate der CDU verbleiben, was aber die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 zulässige Höchstgrenze von 15 überschreiten würde. Eine Wahlprüfungsbeschwerde hätte dann die besten Erfolgsaussichten, mit allen möglichen Konsequenzen bis zur Auflösung des Bundestags und der Ausrufung von Neuwahlen.

Lediglich die Reformvorschläge der Grünen und der Linken aus der Wahlrechtsdebatte von 2011 wären geeignet gewesen, die abzusehende Vergrößerung zu verhindern oder zumindest deutlich zu verringern, ohne zugleich verfassungsrechtlich problematisch zu sein. Diese Vorschläge sehen die Verrechnung von Überhangmandaten mit Landeslistenmandaten vor. Der Nachteil aller dieser Vorschläge besteht allerdings darin, dass sie den Proporz im Bundestag noch stärker verzerren würden, als dies ohnehin geschieht.

Das zu lösende Problem ist komplex, man muss sich nun aber trotzdem davor hüten, bei einer Reform die Verhältniswahl selbst infrage zu stellen und über die Einführung von Mehrheitswahl oder Grabensysteme nachzudenken. Im ersten Fall kommen, wie in Großbritannien, nur die direkt gewählten Abgeordneten ins Parlament, im zweiten würden anders als heute die Direktmandate nicht auf die Landesliste angerechnet. In der Tat würde bei diesen Systemen der Bundestag nicht vergrößert. Aber die Einführung könnte - wenn überhaupt - nur mit den Stimmen der beiden großen Parteien beschlossen werden. Die jedoch würden dadurch massiv bevorzugt. Der Verdacht der Manipulation läge dann auf der Hand. Als in den 1960er-Jahren CDU/CSU und SPD schon einmal über die Einführung des Mehrheitswahlrechts diskutierten, warnte der Verfassungsrechtler Peter Badura vor einer "staatsstreichartigen politischen Entscheidung im Mantel des Wahlrechts". Im jetzigen Parteiensystem spiegeln sich die Entscheidungen der Bürger unter den Bedingungen des Verhältniswahlsystems. Dass sich dieses System ändert, zeigt den Wandel der politischen Orientierungen. Die Parteien dürfen sich daher nicht mithilfe von Gesetzen die Sitze zurückholen, die ihnen die Bürger entzogen haben. Die Aufrechterhaltung des Proporzes ist daher weiterhin geboten. Da der Ausgleich ja nur ebendiesen Proporz gewährleisten soll, ist auch nicht der Ausgleich an sich das Problem, sondern ein Design des Wahlsystems, das auf den Ausgleich angewiesen ist, um Gerechtigkeit im Sinne des Proporzes herzustellen.

Eine langfristig sinnvolle und nachhaltige Reform muss daher das Übel an der Wurzel packen und an der Entstehung der Überhangmandate ansetzen. Dies könnte zum Beispiel durch eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise oder die Einführung von Mehrpersonenwahlkreisen geschehen. In jedem Fall muss sich der neue Bundestag der Herausforderung stellen, zügig ein neues und gutes Wahlsystem zu schaffen, das die derzeitigen Missstände zu beseitigen imstande ist.

© SZ vom 22.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: