Außenansicht:Auf ewig fünf vor zwölf

Außenansicht: Oliver Geden, 47, ist Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Meteorologie und leitet die EU-Forschungsgruppe der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Oliver Geden, 47, ist Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Meteorologie und leitet die EU-Forschungsgruppe der Stiftung Wissenschaft und Politik.

(Foto: oh)

Dreht da einer in der Klimadebatte an der Uhr? Immer ist Alarm, aber immer geht noch was. Die Klimaforscher sind zum Opfer ihrer Politikberater geworden, die positive Botschaften wünschen. Sie sollten den Mut zu pessimistischen Prognosen finden.

Von Oliver Geden

Der Klimawandel ist einzigartiges Problem. In keinem anderen Politikfeld spielt die Wissenschaft solch eine große Rolle. Nirgendwo sonst wird das Vorsorgeprinzip derart ernst genommen. Zugleich gibt es kaum ein Politikfeld, bei dem Reden und Handeln so weit auseinander klaffen - und bei dem sich dieser Widerspruch so leicht bemessen lässt, anhand der jährlichen Emissionen. Entsprechend mahnen Umweltpolitiker und Aktivisten immer wieder, es sei "fünf vor zwölf" für die Klimapolitik. Aber ist es gut, ständig in dieser Weise Alarm zu schlagen?

Die Fakten jedenfalls sprechen erst einmal dafür: Die CO₂-Emissionen sind seit dem ersten UN-Gipfel 1992 in Rio fast kontinuierlich gestiegen. Und mit einigem Recht mahnen seit den 90er-Jahren Wissenschaftler, Umweltverbände und Fachpolitiker, dass es schon bald zu spät sein könnte, dass die Zeit davonläuft, man es aber immer noch schaffen könne, wenn man sofort entschlossen handle. Doch die Reaktion ist stets die Gleiche: besorgtes Nicken, danach geht es weiter wie bisher. Sicher, die Investitionen in Wind- und Solarenergie sind stark angestiegen, ihr Ausbau boomt weltweit. Aber es boomt eben auch der Energieverbrauch, weshalb der Anteil fossiler Energieträger kaum abnimmt. Er liegt fast stabil bei 80 Prozent.

Wie aber kann es dann sein, dass es seit mehr als 25 Jahren "fünf vor zwölf" ist? Müsste es angesichts all der folgenlosen Mahnungen nicht längst zu spät sein? Funktioniert die Uhr nicht mehr oder stellt jemand immer wieder den Zeiger zurück? Wer Antworten sucht, findet sie nicht nur im Kleingedruckten der vielen Berichte zur Lösung des Klimaproblems. Es hilft auch ein Blick in den Maschinenraum der wissenschaftlichen Politikberatung.

Jedes globale Klimaziel lässt sich in ein Emissionsbudget umrechnen, das der Menschheit noch bleibt, um den Temperaturanstieg zu begrenzen. Dieses Budget ist einer der wichtigsten Orientierungspunkte der internationalen Klimapolitik. Der letzte große Bericht des Weltklimarats IPPC machte deutlich, dass von 2011 an nur noch insgesamt 1000 Gigatonnen Kohlendioxid ausgestoßen werden dürfen, wenn man die globale Erwärmung auf wenige als zwei Grad gegenüber dem Niveau vor der Industrialisierung begrenzen will. Bei jährlichen Emissionen von derzeit 40 Gigatonnen wäre dieses Budget Mitte der 2030er-Jahre ausgeschöpft. Mit ehrgeizigem Klimaschutz ließe sich dieser Zeitpunkt deutlich nach hinten verschieben.

Doch statt sich auf diese ohnehin schon heroische Aufgabe zu konzentrieren, beschloss der Pariser UN-Klimagipfel 2015 eine Verschärfung auf "möglichst 1,5 Grad", verbunden mit dem Auftrag an den IPCC, im Herbst 2018 einen Sonderbericht vorzulegen. Legt man die Zahlen aus dem letzten Hauptbericht zugrunde, dann hätten 2011 nur noch 400 Gigatonnen zur Verfügung gestanden, das Budget wäre schon 2021 ausgeschöpft. Die Uhr stünde damit jetzt bestenfalls bei einer Minute vor zwölf. Der politische Effekt ist leicht abzusehen. Die Regierungen der Industrie- und Schwellenländer würden das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr ernst nehmen. Die Entwicklungsländer würden massiv Geld für eintretende Klimaschäden verlangen. Der gute Geist des Pariser Klimagipfels wäre schon wieder verflogen.

Doch seit einigen Monaten mehren sich die guten Nachrichten. Auf Basis veränderter Berechnungsmethoden kommt eine Studie nach der anderen zu dem Ergebnis, dass das verbleibende Budget weit größer ist als angenommen. Wenn der IPCC-Sonderbericht diesen Ansatz Anfang Oktober bestätigt, bleiben der Welt mindestens zehn Jahre mehr Zeit. Auch ist es in der Forschung üblich geworden, die 1,5-Grad-Schwelle nicht mehr als harte Grenze zu verstehen. Man erlaubt ein zwischenzeitliches Überschreiten der Temperatur, die man im Verlauf des Jahrhunderts wieder absenken will, indem man der Atmosphäre große Mengen an CO₂ entzieht. So kann man weitere Jahrzehnte gewinnen. All dies wäre immer noch extrem herausfordernd. Aber es ist immer noch zu schaffen, wenn wir jetzt endlich ernst machen. Kurzum: Es ist wieder einmal fünf vor zwölf.

Das Problem dabei ist nicht, dass die Klimaforschung zu überraschenden neuen Erkenntnissen gelangt, sondern dass die Politik sich daran gewöhnt hat, dass wir beim Klimaschutz ständig an einer Wegscheide stehen, dass uns stets nur noch wenige Jahre bleiben, um umzusteuern. Aber wenn die Politik dann nicht liefert, bleibt es trotzdem "fünf vor zwölf" - ein fatales Signal.

Der Systemfehler besteht darin, dass die klimawissenschaftliche Politikberatung möchte, dass sich trotz mangelhaftem Klimaschutz kein Defätismus breitmacht. Auf die wiederkehrende Frage der Klimapolitiker, unter welchen Bedingungen das Einhalten des 1,5 oder 2-Grad-Ziels noch machbar wäre, reagieren Forscher mit immer kühneren Annahmen, auch solchen, die vor wenigen Jahren noch als unrealistisch oder fragwürdig galten. In den Modellen rückt der letztmögliche Scheitelpunkt globaler Emissionen weiter nach hinten, danach fällt die Kurve steiler ab und geht inzwischen tief unter die Null-Linie, obwohl die Technologien für "negative Emissionen" noch kaum ausgereift sind, nicht zuletzt, weil die Politik sich in diesem Bereich kaum engagiert.

In der Kommunikation zwischen Klimaforschung und Politik besteht also ein tief greifendes Missverständnis. Während Wissenschaftler auf die Frage nach der Erreichbarkeit von ehrgeizigen Klimazielen mit "Ja, wenn ..." antworten, und davon ausgehen, dass diese Botschaft auch verstanden wird, kommt es der Politik nur auf das "Ja" an. Im Vordergrund steht die fett gedruckte Überschrift; die im Kleingedruckten formulierten Bedingungen werden schnell überlesen. Je länger dieser Zustand andauert, desto schlechter ist das für das Weltklima, aber auch für die Integrität der Forschung, die bei der Bewertung der politischen Handlungsfähigkeit immer optimistischer wird, gegen jede Evidenz.

Um die Gewöhnung an ein permanentes "fünf vor zwölf" zu beenden, sollte die Klimaforschung beginnen, wieder striktere Standards bezüglich der Machbarkeit von Klimazielen anzulegen. Anstatt zu sagen: "Ja, das 1,5-Grad-Ziel ist nach wie vor erreichbar, wenn die Regierungen A, B und C implementieren", sollte die Kernbotschaft vorsichtiger ausfallen: "Nein, derzeit ist das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels nicht plausibel, es sei denn, die Regierungen implementieren A, B und C".

Dies würde die Klimaforschung davor bewahren, die Uhr durch immer optimistischere Annahmen stets zurückzustellen. Stattdessen würde der Druck, für bessere Nachrichten zu sorgen, auf den Regierungen lasten - wo er auch hingehört.

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