Außenansicht:Als die Feinde zu Partnern wurden

Michael Kittner

Michael Kittner, 77, ist Arbeitsrechtshistoriker und Emeritus für <QA0> Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialrecht. Er war von 1972 bis 1996 <QA0> Justiziar der IG Metall.

(Foto: Bund-Verlag)

Der Industrielle Hugo Stinnes und der Gewerkschafter Carl Legien schufen vor 100 Jahren die Grundlage der Tarifautonomie. Heute droht zu erodieren, was den Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern möglich macht.

Von Michael Kittner

Eine Woche nach der Novemberrevolution verabredeten die Spitzen der deutschen Arbeitgeber und Gewerkschaften eine neue Arbeitsverfassung. So wie die Revolution die politische Verfassung umstürzte, vom alten Obrigkeitsstaat zur Demokratie mit Frauenwahlrecht, veränderte das Stinnes-Legien-Abkommen, wie es auch nach den Verhandlungsführern genannt wurde, die Arbeitsbeziehungen grundlegend: Die Unternehmer gaben das alte "Herr-im-Hause-Prinzip" des Kaiserreichs aus Furcht vor einer weitergehenden "Sozialisierung" preis und ließen sich notgedrungen für ihren Bereich auf eine "Demokratisierung" eigener Art ein.

Die Arbeitgeber erkannten die Gewerkschaften ausdrücklich als berufene Interessenvertretung der Arbeitnehmer an. Sie akzeptierten den Tarifvertrag als Instrument mit eigener Geltungskraft und holten diesen damit aus dem rechtlichen Niemandsland. Sie sagten sich los von der Förderung der "gelben", "wirtschaftsfriedlichen" Werkvereine, deren Zweck die Unterminierung des Gewerkschaftseinflusses war. Für Betriebe mit mindestens 50 Beschäftigten wurden schließlich Arbeiterausschüsse zur Überwachung der Durchführung von Tarifverträgen eingerichtet, der Keim der späteren Betriebsverfassung.

Das waren die Eckpfeiler der neuen Arbeitsverfassung, die in der Folge durch entsprechende Gesetze und Verordnungen staatliche Geltungskraft erhielten. Diese Institutionen prägen auch heute noch die Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland. Die hierzu unentbehrliche Arbeitsgerichtsbarkeit kam in der Weimarer Republik erst 1926 dazu. "100 Jahre Stinnes-Legien-Abkommen" stehen also für eine auf den ersten Blick denkbar erfolgreiche und nachhaltige Tradition, auch wenn der Weimarer Republik nur eine Lebensdauer von 14 Jahren beschieden war.

Für den Anfang vom Ende stehen zwei noch nicht erwähnte ebenfalls zentrale Inhalte des Abkommens: Als materielles "Bonbon" hatten die Gewerkschaften den Arbeitgebern den Acht-Stunden-Tag ohne Lohnminderung abgerungen - freilich mit deren Vorbehalt, dass das auf Dauer nur möglich sei, wenn er auch in allen anderen Industrienationen eingeführt werde. Weiterhin hatte man sich zu einer "Zentralarbeitsgemeinschaft" zusammengeschlossen, die sich nichts weniger vorgenommen hatte, als die "Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens" und die "Sicherung der Lebensgrundlagen der Arbeitnehmerschaft".

Das waren zugleich die "Sollbruchstellen" des ganzen Abkommens. Die Arbeitgeber bemühten sich bereits von Ende 1919 an darum, den Acht-Stunden-Tag abzuschaffen. Ihre zentrale tarifpolitische Aktivität bis 1924 zielte im Kern hierauf ab, und sie setzten von diesem Zeitpunkt an mit einem Mix aus staatlicher Schlichtung und eigener Aussperrungspraxis abermals eine 56-Stunden-Woche durch. Das ließ die Gewerkschaften, deren radikalere Mitglieder der Zusammenarbeit mit dem "Klassenfeind" skeptisch gegenüberstanden, schon früh am Sinn des Unterfangens zweifeln. Der USPD-dominierte Metallarbeiterverband verließ die Arbeitsgemeinschaft bereits im Oktober 1919. Danach stellte sich bald heraus, dass das Vorhaben, die ganze Wirtschaft zu "dirigieren", an den gesellschaftlichen Realitäten scheitern musste, am Widerstand von Unternehmern und Bürokratien. So endete die "Große Arbeitsgemeinschaft" glanzlos im März 1924.

Zu diesem Zeitpunkt waren aber auch schon die Grundlagen für ein System der Tarifautonomie mit dem Interessenausgleich ebenbürtiger Partner verschwunden. Die Hyperinflation von 1923 hatte eine heute vielfach übersehene Folge: Die Verbände verloren ihr gesamtes Geldvermögen. Während die Arbeitgeberverbände sich mit kapitalkräftigen Mitgliedern davon rasch erholen konnten, blieben die Gewerkschaften von da an praktisch mittellos. In den wenigen, nun folgenden stabileren Jahren waren sie nicht zum Aufbau eines ausreichenden Verhandlungsdrucks aus eigener Kraft in der Lage. Sie flüchteten geradezu in die Arme der staatlichen Schlichtung, die im Interesse der Binnenkaufkraft bis 1928 für sonst nicht durchsetzbare Lohnsteigerungen sorgte.

Danach kam die Weltwirtschaftskrise und mit ihr Massenarbeitslosigkeit. Die Konsequenz: 1932 war etwa die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder arbeitslos; ein weiteres Viertel arbeitete kurz. Die Gewerkschaften vertraten nur noch etwa acht Prozent der Arbeitenden. Nach der Regierungsübernahme durch das Kabinett Brüning 1931 mussten sie seitens der staatlichen Schlichtung Lohnkürzungen hinnehmen und schon am 2. Mai 1933 wurden sie von den Nationalsozialisten zerschlagen.

Nicht vergessen werden darf dabei die Mitverantwortung der Großindustrie, deren überwiegender Teil (die Chemie ausgenommen) das neue Tarifvertragssystem zu keinem Zeitpunkt innerlich und praktisch angenommen hatte: Alle Wirtschaftsbereiche, die im Kaiserreich gar keine Tarifverträge abgeschlossen hatten, ließen sich nur durch die staatliche Schlichtung zu einer Einigung zwingen. Ihr harter Kern drang auf die Beseitigung von Tarifverträgen und Republik.

Dieses Ende von Tarifautonomie und Republik erinnert an das berühmte Böckenförde-Diktum: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Es gilt für eine freiheitliche Arbeitsverfassung möglicherweise sogar gesteigert und sollte die Sinne dafür schärfen, dass die Zukunft des Tarifvertragssystems nicht ohne weiteres gesichert ist. Das heute funktionierende Tarifvertragssystem ist bedroht: Mitgliederschwund bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gleichermaßen, bei letzteren eine zunehmende Neigung zu Mitgliedern, die sich nicht an den Tarif binden, mit der Folge eines schleichenden Rückgangs der Tarifbindung. Dazu wird durch IT-gestützte Produktionsformen zunehmend unklar, wer überhaupt noch ein für Tarifverträge erreichbarer Arbeitnehmer ist. Arbeitnehmereigenschaft und Betriebsbegriff erodieren. Außerdem entschwinden Arbeitgeber und Arbeitsplätze über die Grenzen und so weiter.

Es müssen nicht reaktionäre politische und ökonomische Eliten sein - auch scheinbar sachlogische Entwicklungen können das untergraben, was man in großem Konsens als wichtigen Baustein des "Modells Deutschland" ansieht, dessen hundertjährige Tradition gerade gefeiert wird. Möglicherweise muss mehr und absichtsvoll etwas für seinen Schutz getan werden. Vorschläge gibt es: steuerliche Prämien für tarifgebundene Arbeitsverhältnisse, echte Differenzierungsklauseln. Hier hätten wir einen Lackmustest für alle, die sich heute im Glanze von "100 Jahre Stinnes-Legien-Abkommen" sonnen.

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