Süddeutsche Zeitung

Protest gegen Erdoğan:Türkische Regierung droht mit Einsatz der Armee

Steht eine weitere Eskalation des Konflikts in der Türkei bevor? Die Regierung erwägt, in der Auseinandersetzung mit Demonstranten auch das Militär einzusetzen. Allerdings gilt die Armee als Bollwerk einer säkulären Türkei unter einer religiös-konservativen Regierung. Kanzlerin Merkel kritisierte das Vorgehen der türkischen Behörden scharf.

Die türkische Regierung hat den Demonstranten mit dem Einsatz der Armee gedroht. "Die Polizei ist da. Wenn das nicht reicht, die Gendarmerie. Wenn das nicht reicht, die türkischen Streitkräfte", sagte Vizeregierungschef Bülent Arınç türkischen Medien zufolge. Die Demonstrationen seien illegal und würden von nun an verhindert. Die Regierung werde alles Nötige unternehmen, um das Gesetz durchzusetzen.

Es ist allerdings fraglich, wie realistisch dieses Szenario ist. Denn ob die Armee, die als Bastion einer säkulären Türkei gilt, zu einem derartigen Einsatz überhaupt zur Verfügung stünde, ist derzeit schwer einzuschätzen. Ein derartiges Eingreifen des Militärs gegen die eigene Bevölkerung im Auftrag der Regierung würde jedoch nicht nur eine neue, dramatische Eskalation des Konflikts bedeuten. Gerade vor dem Hintergrund des über Jahrzehnte andauernden, massiven Einfluss des Militärs auf die Politik, wäre dies kritisch zu sehen und dürfte einen Aufschrei der liberalen Kritiker der Regierung zur Folge haben.

Arınçs Regierungskollegen geben sich angesichts dessen Ankündigungen zurückhaltender. Innenminister Muammer Güler zufolge gibt es bislang jedoch noch keine entsprechende Order: "Ich habe keine Unterstützung durch das Militär angeordnet", betonte er der Hürriyet Daily News zufolge. Zuvor hatte Güler allerdings den von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreik als "illegal" bezeichnet und angekündigt, die Sicherheitskräfte würden eine solche Aktion "nicht zulassen", sagte er.

Die unnachgiebige Haltung der Regierung - unabhängig von der jüngsten Drohung - scheint mittlerweile auch ihren Rückhalt in der Bevölkerung schwinden zu lassen. Einer neuen Umfrage der Zeitung Today's Zaman zufolge wird der Politikstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan als immer repressiver empfunden: Jeder zweite Türke erkennt demnach zunehmend autoritäre Tendenzen unter dem seit 2002 regierenden Regierungschef. Wären am Sonntag Wahlen, würde Erdoğans konservativ-islamische AKP-Partei demnach von rund 50 Prozent auf 35,3 Prozent abstürzen. Eine Umfrage in der vergangenen Woche sah die AKP noch bei knapp 50 Prozent.

In der Befragung des türkischen Sozialforschungsinstituts Andy-Ar antworten nur 24 Prozent der Befragten auf die Frage "Unterstützen Sie die Protestaktionen im Gezi-Park?" mit Ja. Knapp 53 Prozent sagten Nein.

"Provoziert nicht. Die Polizei wird Gewalt anwenden"

Arınçs Drohung waren erneute heftige Auseinandersetzungen vorausgegangen. In der türkischen Hauptstadt Ankara stoppte die Polizei einen Protestzug von Gewerkschaftern. Sie brachte Wasserwerfer gegen etwa Tausend Demonstranten in Stellung. Die Menge solle die von ihr blockierte Hauptverkehrsstraße im Zentrum wieder räumen, verlangte die Polizei, ansonsten würden die Wasserwerfer eingesetzt. "Provoziert nicht. Die Polizei wird Gewalt anwenden", riefen Polizisten per Lautsprecher den Demonstranten zu. Diese wollten in den zentralen Stadtteil Kizilay ziehen.

Mehrere Gewerkschaften hatten zu den Kundgebungen in Ankara und Istanbul aufgerufen. Sie protestieren gegen die massiven Polizeieinsätze gegen Demonstranten vor allem in Istanbul. Dort hatte die Polizei am Sonntag Wasserwerfer und Tränengas gegen Tausende Menschen eingesetzt, die auf den zentralen Taksim-Platz gelangen wollten. Den Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes hatte die Polizei geräumt. Erst am Sonntag wurden in Istanbul und Ankara fast 600 Menschen festgenommen, wie Mitarbeiter der jeweiligen Anwaltskammern sagten. Nach Vernehmungen seien die Betroffenen entweder wieder freigekommen oder der Staatsanwaltschaft vorgeführt worden.

Merkel kritisiert Vorgehen der türkischen Behörden

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisierte das gewaltsame Vorgehen der türkischen Behörden gegen Demonstranten scharf. "Das, was im Augenblick in der Türkei passiert, das entspricht aus meiner Sicht nicht unseren Vorstellungen von Freiheit der Demonstration, Freiheit der Meinungsäußerung", sagte Merkel dem Sender RTL und fügte hinzu: "Ich bin jedenfalls erschrocken." Merkel forderte die türkische Regierung auf, die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit zu achten.

Auf die Frage, ob das gewaltsame Vorgehen der türkischen Behörden einem EU-Beitrittskandidaten würdig sei, äußerte sich Merkel ausweichend. CSU-Chef Horst Seehofer hingegen bezog klar Stellung, er sei in seinem Nein zu einem EU-Beitritt der Türkei bestätigt. Generalsekretär Alexander Dobrindt (CSU) warf der Türkei einen Mangel an Demokratie vor, der nicht zu akzeptieren sei.

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