Ausschreitungen in der Türkei:Erdogan empfängt Vertreter der Protestbewegung

Erst hatte er gedroht, den Gezi-Park räumen zu lassen - jetzt zeigt sich Ministerpräsident Erdogan doch gesprächsbereit. In Ankara empfängt er Vertreter der Gruppe "Taksim Solidarität". Die Demonstrationen auf dem Taksim-Platz dauern an.

Die Entwicklungen im Newsblog. Von Christiane Schlötzer, Istanbul, und Barbara Galaktionow

Seit fast zwei Wochen protestieren Tausende gegen die Bebauung des Gezi-Parks und den autoritären Regierungsstil von Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei. Mittags richtet der Ministerpräsident eine "letzte Warnung" an die Demonstranten im Zentrum Istanbuls - und kündigt eine Räumung des besetzten Parks an. Doch jetzt zeigt er sich gesprächsbereit. Im Moment dauern die Proteste auf dem Istanbuler Taksim-Platz an.

Erdogan trifft sich mit Protestlern in Ankara: Kurz nach einer "letzten Warnung" an die Teilnehmer der regierungskritischen Protestbewegung in der Türkei ist Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Donnerstagabend mit mehreren Demonstrationsführern zusammengetroffen. Rund ein Dutzend Vertreter des Protestbündnisses "Taksim Solidarität" waren auf Fernsehbildern beim Betreten der Residenz des Regierungschefs in der Hauptstadt Ankara zu sehen. Es ist ihr erstes direktes Gespräch mit Erdogan seit Ausbruch der regierungskritischen Proteste vor zwei Wochen.

Schon am Mittwoch hatte Erdogan erstmals Vertreter seiner Kritiker empfangen, die jedoch nur einen Teil der Protestbewegung repräsentierten. Die besonders wichtige Gruppe "Taksim Solidarität" etwa war nicht dabei. Der türkische Ministerpräsident will nun doch mit Vertretern der Protestbewegung sprechen. Für den späten Abend sei ein Treffen des Regierungschefs mit der Taksim-Plattform angesetzt worden, teilte die Gruppe "Taksim Solidarität" mit. Einer ihrer Vertreter hatte allerdings betont, wenn die Polizei erneut eingreife, würden sie nicht zum Treffen erscheinen. Im Gezi-Park herrschte gespannte Ruhe, viele Demonstranten warteten auf einen Polizei-Einsatz.

Regierung verlangt Ende der Proteste im Zentrum Istanbuls: Der türkische Regierungschef Erdoğan richtet eine "letzte Warnung" an die Besetzer des Gezi-Parks in Istanbul. "Unsere Geduld ist am Ende. Ich warne sie zum letzten Mal", sagte er der britischen BBC zufolge bei einer Rede vor seiner Partei AKP in der türkischen Hauptstadt Ankara. "Ich sage den Müttern und Vätern: Bitte nehmt eure Kinder an der Hand und bringt sie dort weg", fuhr Erdoğan im Hinblick auf die Vielzahl junger Demonstranten fort. Die Regierung könne es "Gesetzesbrechern" nicht erlauben, dort herumzuhängen. "Wir werden den Platz räumen", kündigte er dem britischen Guardian zufolge außerdem an. Zuvor hatten verschiedene Medien berichtet, dass der Regierungschef bereits am Mittwoch die Anweisung erteilt hatte, die Proteste innerhalb von 24 Stunden zu beenden. Die Nachrichtenagentur AP schreibt, der Premierminister habe angekündigt, den Taksim-Platz innerhalb von 24 Stunden von "Randalierern" räumen zu lassen. In anderen Medien heißt es, Erdoğan habe gesagt, dass dies geschehen solle, "ohne dass die jungen Menschen verletzt" würden. AKP-Sprecher und Vize-Ministerpräsident Hüseyin Çelik hatte die Protestierenden schon am Mittwoch aufgefordert, den Park "so schnell wie möglich" zu verlassen - und dies mit dem Vorschlag Erdoğans für eine Volksabstimmung über die Zukunft der Grünfläche begründet: "Da es die Entscheidung für ein mögliches Referendum gibt, denken wir, dass der Gezi-Park nach dieser Geste guten Willens geleert werden und das Leben wieder zur Normalität zurückkehren sollte", sagte er der englischsprachigen Online-Ausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet zufolge.

Ministerpräsident schlägt Referendum vor: Am Mittwoch schien es so, als sei Erdoğan nach fast zwei Wochen massiver Proteste gegen die türkische Regierung plötzlich zu Zugeständnissen bereit. Er erwägte, im Streit um das Bauprojekt im Gezi-Park die Istanbuler entscheiden zu lassen. Den Vorschlag für ein Referendum habe Erdoğan bei einem Treffen mit Vertretern der Protestbewegung gemacht, sagte Vize-Ministerpräsident Çelik. Die Bevölkerung von Istanbul oder aber des Stadtteils Beyoğlu könne dann entscheiden, ob der Park bestehen bleiben solle oder der geplante Nachbau einer osmanischen Kaserne errichtet werde, sagte Çelik. Wie Erdoğans Vorschlag zu bewerten ist, ist im Moment unklar. Ein Vertreter der Gruppe, die sich mit Erdoğan getroffen hatte, äußerte sich dennoch verhalten positiv: "Als Menschen, die an den Dialog glauben, denken wir, dass ein Kommunikationsweg eröffnet wurde", sagte er der Hürriyet.

Zweifel an der Volksabstimmung: Ein Vertreter des wichtigsten Bündnisses der Demonstranten, Taksim-Solidarität, äußerte Zweifel daran, dass ein Referendum überhaupt möglich ist: "Es verstößt gegen das Gesetz, eine Abstimmung über das Schicksal des Parks zu planen", sagte Tayfun Kahraman, der auch der Kammer der Stadtplaner von Istanbul vorsitzt, in Istanbul. Das Bündnis von 116 an den Protesten beteiligten Gruppen wolle sich aber noch am Donnerstag über eine gemeinsame Position zu dem Vorschlag verständigen. Der Bündnisvertreter nannte zwei Gründe, die gegen eine Abstimmung sprächen: Erstens gebe es bereits ein Gerichtsurteil, das den Stopp des umstrittenen Bauprojekts angeordnet habe. Zweitens seien Referenden von den türkischen Gesetzen nur bei Verfassungsfragen vorgesehen, sagte Kahraman. Auch SZ-Korrespondentin Christiane Schlötzer zufolge ist es fraglich, ob ein Referendum auf lokaler Ebene in der Türkei überhaupt möglich ist. Zudem wäre unklar, welche Verbindlichkeit es hätte.

Wie die Demonstranten reagieren: Die Aufforderungen der Regierungsspitze, den Gezi-Park umgehend zu räumen, haben bei den Protestierenden Befürchtungen ausgelöst, dass die Park-Besetzung schon bald gewaltsam beendet werden könne, sagte SZ-Korrespondentin Schlötzer bereits am Morgen. Sie geht nicht davon aus, dass die in der sogenannten Taksim-Solidarität organisierten Demonstranten nur aufgrund der vagen Aussicht auf ein Referendum den Park von verlassen werden. Ihnen gehe es um eine klare Entscheidung der politisch Verantwortlichen, dass der Gezi-Park erhalten bleibe. Zudem blieben andere zentrale Forderungen von einer Volksabstimmung über den Park völlig unberührt: Die Demonstranten verlangen die Freilassung aller Menschen, die im Zuge der Proteste festgenommen wurden. Außerdem fordern sie, dass die Verantwortlichen für die brutalen Polizeieinsätze vor Gericht gestellt werden.

Medien melden weiteres Todesopfer: Ein Demonstrant, der während der Zusammenstöße mit der türkischen Polizei Anfang Juni in Ankara verletzt worden war, ist gestorben. Das berichten mehrere britische Medien unter Berufung auf die Familie des Verstorbenen. Der 26-Jährige, der tagelang an lebenserhaltenden Maschinen angeschlossen war, sei am Donnerstagmorgen für tot erklärt worden. Es wird vermutet, dass er während einer Demonstration von einem Kanister mit Tränengas getroffen und verletzt wurde. Bei den landesweiten Protesten waren zuvor bereits vier Menschen ums Leben gekommen. Wie die Regierung mitteilte handelte es sich um drei junge Demonstranten und einen Polizisten.

EU-Parlament gibt Erdoğan Schuld an Eskalation: Das EU-Parlament kritisierte Erdoğan wegen seiner unversöhnlichen Haltung zu den Demonstranten im Gezi-Park scharf. Der Regierungschef habe zur Polarisierung beigetragen, "weil er es ablehnt, versöhnliche Schritte einzuleiten und die Reaktion eines Teils der türkischen Bevölkerung zu verstehen", hieß es in einer gemeinsamen Entschließung von Christ- und Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen, die am Donnerstag in Straßburg verabschiedet wurde. Die türkische Regierung solle "das Recht aller Bürger auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und friedlichen Protest achten". Die Parlamentarier verurteilten die unverhältnismäßige und überzogene Anwendung von Gewalt durch die türkischen Polizeikräfte. Die Verantwortlichen für die Gewalt sollten zur Rechenschaft gezogen und die Opfer entschädigt werden. Erdoğan reagierte empört: "Was glauben Sie, wer Sie sind, dass Sie so eine Entscheidung treffen?", sagte er in Ankara an die EU-Politiker gerichtet.

Amnesty spricht von "beispielloser" Polizeigewalt: Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte die exzessive Gewalt, mit der die türkische Polizei gegen die Demonstranten vorgeht. In der Türkei habe es nie zuvor eine Zeit gegeben, in der die Polizeigewalt "so weit verbreitet und so anhaltend war", sagte Andrew Gardner, Türkei-Experte der Organisation, dem britischen Independent. Die Polizei habe Tränengas als Strafmaßnahme eingesetzt und nicht um die Menge zu zerstreuen, wozu es eigentlich gedacht sei. Es habe Fälle gegeben, in denen die Sicherheitskräfte damit direkt auf Demonstranten gefeuert und dadurch schwere Kopfverletzungen verursacht hätten. Außerdem werde Tränengas in Gebäuden eingesetzt, was sehr gefährlich sein könne. Gardner warf zudem Ministerpräsident Erdoğan vor, den Konflikt durch aufstachelnde Reden zu schüren.

Rückhalt der Protestbewegung in der türkischen Bevölkerung: Von außen betrachtet, wirken die Demonstrationen gegen Erdoğan wie eine breite Massenbewegung, doch wie viele Türken tatsächlich hinter den Aktivisten im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz stehen, ist schwer einzuschätzen. Eine Umfrage des türkischen Sozialforschungsinstituts Andy-Ar lieferte am Mittwoch erste Erkenntnisse dazu. Gut 24 Prozent der Befragten antworteten demnach auf die Frage "Unterstützen Sie die Protestaktionen im Gezi-Park?" mit Ja. Knapp 53 Prozent sagten Nein. Lediglich 7,5 Prozent der Befragten sprachen sich für eine Fortsetzung der Proteste aus und auch der Regierungspartei schaden die Ausschreitungen bisher offenbar nicht: Sie würde, ähnlich wie bei der Parlamentswahl 2011, knapp 50 Prozent der Stimmen erhalten. Für die Umfrage sprachen die Sozialforscher nach eigenen Angaben zwischen 5. und 10. Juni in 21 Städten und ländlichen Bezirken mit mehr als 3600 Erwachsenen. Auch zwei deutsche Blogger haben ihre Freunde in der Türkei dazu befragt, wie sie zu den Protesten stehen.

Hintergrund der Proteste: Ursprünglich richteten sich die Demonstrationen, die vor zwei Wochen ihren Anfang nahmen, gegen den Plan zur Überbauung des Gezi-Parks in Istanbul. Als das Camp der Aktivisten allerdings am 31. Mai von Sicherheitskräften gewaltsam geräumt wurde, schlossen sich immer mehr Menschen dem Protest an. Sie stören sich vor allem an dem als autoritär empfundenen Kurs von Ministerpräsident Erdoğan und seiner AK-Partei, die im politischen System der Türkei eine dominante Rolle einnimmt.

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