Ausschreitungen in Chemnitz:"Uns fehlt im Osten eine ganze Generation"

Sitzung des Sächsischen Landtages

Petra Köpping (SPD), Staatsministerin für Gleichstellung und Integration

(Foto: dpa)

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping kritisiert nach den Ausschreitungen in Chemnitz den geringen Widerstand durch die Zivilgesellschaft. Politiker allein könnten den Kampf gegen Rechtsextremismus nicht führen.

Interview von Antonie Rietzschel, Leipzig

Petra Köpping fährt immer wieder quer durch Sachsen, um mit Engagierten aber auch Enttäuschten ins Gespräch zu kommen. Öffentlich thematisiert die SPD-Politikerin und Integrationsministerin von Sachsen immer wieder die Verletzungen vieler Ostdeutscher durch die Wende. Demnächst erscheint ihre "Streitschrift für den Osten".

SZ: Frau Köpping, Sie waren Montagabend in Chemnitz. Warum?

Petra Köpping: Ich wollte mit meiner Anwesenheit die Oberbürgermeisterin und die aktive Zivilgesellschaft von Chemnitz unterstützen. Als Ministerin wollte ich deutlich machen, dass wir für die Leute da sind, die für demokratische Werte in der Stadt kämpfen.

Als Gegendemonstrantin standen Sie direkt gegenüber der - von Rechtsextremen dominierten - Proteste. Wie haben Sie diese Nähe erlebt?

Beide Seiten haben sich zuweilen angeschrien und so gegenseitig hochgepeitscht. Da wurde etwa gerufen: "Komm doch rüber!" Ich glaube, es wäre in Chemnitz besser gewesen, die Demonstrationen voneinander zu trennen, sodass jede ihre eigenen Positionen hätte setzen können. Ohne dass das in Gewalt endet. Hör- und Sichtweite ist gut, aber diese zwei Kundgebungen standen in Wurfweite. Das war in Teilen für mich beängstigend.

Sie sind dafür bekannt, dass Sie auch das Gespräch mit Teilnehmern von Pegida-Demonstrationen suchen. Haben Sie es am Montag auch versucht?

Bei Pegida-Veranstaltungen haben wir immer einen Stand aufgebaut, da sind dann Leute vorbeigekommen. Das wäre gestern nicht möglich gewesen. Die Leute in Chemnitz erschienen mir nicht gesprächsbereit, die Stimmung war sehr aggressiv.

Waren Sie überrascht, dass sich in Chemnitz innerhalb kürzester Zeit Tausende Rechtsextreme und Hooligans mobilisieren lassen?

Das ist eine neue Qualität. Früher blieben rechtsextreme Gruppen und Parteien wie die NPD während ihrer Demonstrationen sehr für sich. Jetzt mischen sich die Rechtsextremen unter Leute, die vielleicht tatsächlich auch Sorgen und Nöte haben.

Ein Pegida-Demonstrant hat Sie einmal aufgefordert: "Integriert doch erst mal uns." Sie haben sich das tatsächlich vorgenommen. In Chemnitz stellte sich ein Teil der bürgerlichen Mitte mit Neonazis in eine Reihe, sogar Eltern mit ihren Kindern. Wie integriert man die denn nun?

Leicht ist das nicht. Aber ich will diese Menschen nicht aufgeben. Seit Monaten besuchen wir im Rahmen der Sachsengespräche verschiedene Orte, kommen mit den Leuten ins Gespräch. Die Erfahrungen sind immer gleich: Am Anfang hat man da an einem Tisch etliche Menschen sitzen, die gefühlt der AfD angehören. Und am Ende kommt so viel Persönliches ans Tageslicht. Die Menschen merken, wenn man die Probleme ernst nimmt.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich habe eine junge Frau getroffen, die wirklich fürchterlich auf die Flüchtlinge schimpfte, dass die mehr Geld kriegen. Am Ende kam raus, dass sie ein krebskrankes Kind hat. Von der Schule gab es keine Hilfe, sie wurde von A nach B geschickt. Ich will nicht sagen, dass das alles stimmt. Aber ihre Wahrnehmung war, dass den Flüchtlingen sofort geholfen wurde. Und sie steht alleine da, keiner hört ihr zu. Ich habe das getan. Sie hat mich am Ende umarmt.

Aber Politiker können nicht auf jedes persönliche Schicksal eingehen.

Nein, die Menschen haben auch eine Eigenverantwortung. Aber wir können im Kleinen Abhilfe schaffen. In meine Bürgersprechstunde kam ein Mann mit vier verschiedenen Krebsleiden und sagte, er kriege keinen Ausweis für einen Behindertenparkplatz. Das kann ich ändern.

Sind denn persönliche Sorgen eine Entschuldigung, um sich in eine Reihe mit Rechtsextremen zu stellen, so wie das am Montag passiert ist?

Die Chemnitzer haben nach dem Tod des Mannes in der Innenstadt sicher berechtigte Fragen: Wie kann mich die Stadt schützen? Die Rechtsextremen missbrauchen das. Jedem, der an einer solchen Demonstration wie am Montag teilnimmt, muss klar sein, zu wem er sich da stellt. Und spätestens wenn man diese Hasstiraden hört oder sieht, wie rechte Demonstrationsteilnehmer versuchen, nach vorne zu drängen, gibt es nur eine Möglichkeit: zu gehen.

"Der Pessimist sagt: Wer weiß, wo wir noch landen"

Auf der Gegenseite standen am Montag gerade mal 1700 Menschen, fast nur junge Leute.

Ich frage mich da, wo die Zivilgesellschaft bleibt. Nur zu warten, dass Politik das alleine löst, wird nicht funktionieren. Ein Unternehmer hat mich kürzlich gefragt: "Frau Köpping, was wollen Sie tun, damit wir nächstes Jahr zur Landtagswahl stabile Verhältnisse haben?"

Was haben Sie geantwortet?

Ich habe ihm erklärt, dass wir gerade alles tun, was geht. Ich bin jeden Abend unterwegs, andere Minister auch. Dann habe ich dem Unternehmer gesagt, dass Politiker das nicht allein schaffen. Dann habe ich gefragt: "Was tun Sie? Haben Sie mal mit Ihrer Belegschaft geredet? Was denken denn die Leute? Was haben die für Probleme? Wählen die vielleicht AfD? Warum? Haben Sie das gemacht?"

Hatte er?

Nein. Ich habe ihm geraten, mal in eine Gemeinderatssitzung zu gehen. Die Menschen müssen begreifen, dass Demokratie nicht nach dem Prinzip eines Pizza-Bestelldienstes funktioniert. Ich erlebe das auch bei manchen Bürgermeistern. Die beklagen sich bei mir, es fehle an Geld für die Kita-Sanierung, für die Straße. Die reden nur über Geld, aber nicht über die Situation im Ort. Wenn wir nächstes Jahr den Erfolg der AfD verhindern wollen, geht das nur gemeinsam. Wir als einzelne Politiker können das nicht.

Sie bringen nächste Woche ein Buch heraus, "Streitschrift für den Osten", in dem Sie die Verletzungen der Ostdeutschen durch die Wende thematisieren. Interessiert das jetzt noch?

Immer wenn es ruhig ist in Sachsen, wird das Thema Ostdeutschland ganz schnell in die Ecke gekehrt. Wenn aber wieder was Schlimmes passiert, dann ist Sachsen wieder im Fokus und damit auch meine Themen. Aber das eine hat ja mit dem anderen zu tun. Es gibt Gründe für das Fehlen einer starken Zivilgesellschaft: Seit 1989 haben 750 000 Menschen Sachsen verlassen, das waren Menschen, die gut ausgebildet waren, flexibel. Die sind weg. Uns fehlt im Osten eine ganze Generation, vor allem in den ländlichen Räumen.

Unter jenen, die dageblieben sind, hat sich Frust breit gemacht. Woran nährt der sich?

Nehmen wir die früheren Eisenbahner. Die haben nach der Wende Geld in das bundesdeutsche Eisenbahnvermögen eingebracht, erhielten die Zusage, dass sie damit die gleiche Rente bekommen wie die West-Eisenbahner. Und die bekommen sie nicht. Viele von ihnen wählen jetzt AfD. Wir reden hier von einem Personenkreis von 120 000 bis 250 000 Menschen. Solche Enttäuschungen vererben sich auch, das zeigen Erhebungen wie der Sachsen-Monitor. Demnach haben viele in der Generation der 30- bis 50-Jährigen das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein. Doch selbst wenn ich mich dieser Enttäuschung annehme, kann ich nicht versprechen, dass ich alle Probleme löse. Am Ende ist es nur ein Puzzleteil von vielen. Wir können nicht alles reparieren.

Sollten wir also weniger über organisierten Rechtsextremismus in Ostdeutschland reden?

Rechtsextremismus ist ein Problem in Sachsen. Die Programme zum Kampf gegen solche Tendenzen liegen teilweise bei mir. Ich habe da in der Vergangenheit immer darum gekämpft, dass wir mehr Möglichkeiten bekommen, gerade in Schulen und in der Berufsausbildung stärker politische Bildung anzubieten. Da hieß es lange: Das reicht ja, was ihr da macht. Deswegen bin ich jetzt ganz froh, dass der Ministerpräsident den Kampf gegen Rechtsextremismus verstärken möchte.

Herr Kretschmer sagt: "Wir werden den Kampf in Sachsen gewinnen." Wie lange wird das dauern?

Ich weiß es nicht. Wir können nicht all das, was in vielen Jahren vernachlässigt wurde, innerhalb kurzer Zeit aufholen.

Hat die Landesregierung im Umgang mit Rechtsextremismus versagt?

Das klare Bekenntnis hat gefehlt - und die politische Bildung in den Schulen. Aber auch da liegen die Ursachen in der Vergangenheit. Lehrern, die zu DDR- Zeiten in Schulen arbeiteten, wurde vorgeworfen, sie hätten die Kinder politisch indoktriniert, manipuliert. Wer nach der Wende noch weitermachen durfte, der hat sich gesagt: Politisch werde ich nie wieder in der Schule was sagen.

Sachsen wirkt derzeit wie ein zerrissenes Land. Auf der einen Seite, die Alternative für Deutschland sowie Rechtsextreme. Auf der anderen Seite jene, die sich wehren. Und dazwischen eine große schweigende Mehrheit. Wie schafft man wieder ein Miteinander?

Wir müssen zum Beispiel die Sicherheits- und Integrationspolitik gemeinsam denken. In der Dresdner-Neustadt gibt es ein Drogenproblem, zu den Dealern gehören Geflüchtete. Wenn ich in der Neustadt innerhalb kürzester Zeit ein Knöllchen kriege, die Polizei aber zwei Stunden braucht, bis sie bei einem Vorfall vor Ort ist, dann stimmt was nicht. Stadt, Polizei, Zivilgesellschaft müssen zusammenarbeiten. Ich würde da Begegnungszentren einrichten, Streetworker einsetzen. Ich kenne einen Bürgermeister, der baut in die Problemviertel die besten Schulen, damit unterschiedliche Kinder verschiedener sozialer Schichten dahin gehen. Wir dürfen Menschen nicht ausgrenzen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es Ghettos gibt und alle sagen: "Da wohnen die." Aber genau das machen wir gerade.

Sie sind viel unterwegs, versuchen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Enttäuscht Sie Sachsen an so Tagen wie Montag?

Ja. Ich frage mich, warum meine Arbeit keine Früchte trägt. Auch was die Zustimmung zur SPD betrifft. Laut aktuellen Umfragen liegen wir bei elf Prozent. Der Optimist würde sagen: Na, wenn ihr's nicht macht, wärt ihr vielleicht nur bei sieben. Der Pessimist sagt: Wer weiß, wo wir noch landen.

Schon mal nachgedacht, Sachsen zu verlassen?

In den Pegida-Hochzeiten war ich froh, wieder nach Leipzig zu fahren, wo es eine starke Zivilgesellschaft gibt. Aber auch nach so einer Stimmung wie in Chemnitz, da fährt man nicht selbstzufrieden nach Hause, weil man jetzt auf der Gegendemonstration war. Das ist bedrückend. Aber ich kämpfe weiter.

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