Ausschreitungen in Chemnitz:Der Extremismus ist in die Nähe gerückt

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Herz statt Hetze: Demonstranten in Dresden mit einem Plakat bei einer Kundgebung für Demokratie im Jahr 2015 (Foto: dpa, Bearbeitung SZ)

Hass und Ressentiments gibt es nicht nur am Rand der Gesellschaft. Sie werden geschürt und normalisiert von vielen, die sich zum bürgerlichen Lager zählen - oder gar im Parlament sitzen.

Von Carolin Emcke

"Die Hetzmasse bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel", schrieb Elias Canetti in "Masse und Macht" und fuhr fort, es brauche nicht mehr, als zu wissen, wer vernichtet werden soll, "Jeder will daran teilhaben, jeder schlägt zu. Um seinen Schlag führen zu können, drängt sich jeder in die nächste Nähe des Opfers. Wenn er nicht treffen kann, will er sehen, wie es von den anderen getroffen wird."

Die Hetzmasse in Chemnitz brauchte auch nicht mehr als eine Aufforderung, wen es treffen sollte: Menschen, die als "Andere" konstruiert werden: das "Die", das nicht "Wir" sein darf. Menschen, die mal als "Ausländer", mal als "Migranten" tituliert werden, die aber in Wahrheit nichts anderes sind als Menschen, die durch den Blick der Hassenden rassifiziert werden. Menschen, die ausgeschlossen werden sollen aus der universalen Gemeinschaft derer, denen Menschenrechte zustehen.

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Es ist leicht, nur die Meute und ihr Publikum zu verurteilen

Jeder in der Chemnitzer Hetzmasse wollte teilhaben. Manche wollten jagen, manche zuschlagen, manche wollten explizit "töten". Auch die, die nicht selbst treffen konnten, wollten mindestens sehen, wie das nächste Opfer von anderen getroffen wird. Die lynchwütige Meute braucht das Spektakel, braucht ein Publikum, das vielleicht nicht mittut, aber eine Arena bietet, in der es sich mächtig und gerecht fühlen lässt. Das Publikum, das nicht eingreift, spendet Anerkennung. Es legitimiert die Jagd auf Menschen mit voyeuristischer Lust oder Gleichgültigkeit - und vermittelt den Opfern erneut ihre Wertlosigkeit.

Es ist leicht, nur die Meute und ihr Publikum zu verurteilen, nur Chemnitz oder Sachsen zu dämonisieren und damit die Ereignisse zu exotisieren. Als gäbe es völkischen Nationalismus, als gäbe es Rassismus, als gäbe es Missachtung des Rechtsstaats nur in der Peripherie. Als gäbe es das noch: einen scharf konturierten Rand, der sich auf Abstand halten und distanziert beobachten lässt. Der Extremismus ist in die Nähe gerückt. Hass und Ressentiment mögen ausagiert werden von rechten Kadern und pathologischen Schlägern, die nicht einmal eine Ideologie brauchen. Aber Hass und Ressentiment werden geschürt und normalisiert von vielen, die sich zur bürgerlichen Mitte zählen oder im Parlament sitzen. Es sind Zulieferer des Hasses, die begründen wollen, was sich nicht rechtfertigen lässt: Verachtung für Menschen und den Rechtsstaat.

Das Publikum, das sich entscheiden muss, ob es gaffen oder einschreiten will, ob es die brutalisierte Menge belohnen will mit Aufmerksamkeit und Verständnis oder ob es denen beistehen will, die ausgesondert und gejagt werden - das sind wir alle. Für Gewalttäter, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht, sind die Strafverfolgungsbehörden zuständig. Für die anderen, die Angst haben auf der Straße oder in der Bäckerei, weil sie nicht wissen, ob andere sie als gleichwertig wahrnehmen, für diese Menschen sind wir alle zuständig. Es spielt keine Rolle, welchen Pass sie besitzen, ob ihre Eltern oder Großeltern zugewandert sind, es spielt keine Rolle, ob sie christlich oder muslimisch oder jüdisch oder gar nicht glauben. Niemand darf sich schutzlos ausgeliefert fühlen.

Wir müssen nicht nur in den Rand investieren, nicht nur Menschen in Chemnitz oder Sachsen ansprechen, sondern wir müssen die Gesellschaft im Kern demokratisieren. Wir dürfen nicht nur verhindern wollen, dass Menschen, die als Andere markiert werden, angegriffen werden. Das ist zu wenig. Sondern wir dürfen gar nicht erst zulassen, dass manche als Andere ausgesondert werden, dass die einen als "echt" und die anderen als "unecht" gelten.

Dazu muss diese Gesellschaft sich endlich als Einwanderungsland verstehen. Nicht nur als ein Staat, der sich irgendwann mal unwillig ein Einwanderungsgesetz gibt. Nicht nur als eine Gemeinschaft, die Einwanderer duldet, aber sie bei jeder Gelegenheit daran erinnert, dass sie immer noch etwas besser spielen, etwas weniger gläubig aussehen, etwas leiser auftreten müssen als alle anderen.

Ein Projekt für die Mitte: Deutschland als moderne Einwanderungsgesellschaft

Diese Republik ist kulturell und religiös vielfältig. Das ist keine normative Forderung, sondern eine empirische Feststellung. Sie ist vielfältig. Es gibt nicht nur das Versprechen auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, nicht nur die Garantie der Religionsfreiheit in unserem Grundgesetz, sondern Einwanderung und Migration waren immer schon Teil der Geschichte dieses Landes, so wie regionale und kulturelle Vielfalt Teil unseres föderalen Selbstverständnisses sind. Wer in der eigenen Familie Schleswig-Holsteiner und Rheinländer verbinden musste, weiß, wie mühsam dieser Anspruch sein kann. Es ist nicht verwerflich, die Bedingungen von kluger und gerechter Migrationspolitik zu diskutieren. Aber es ist unrealistisch, Migration nicht als soziale und politische Normalität einer globalisierten Welt zu begreifen.

Eine Demokratie lässt sich am lebendigsten verteidigen, indem man sie demokratisch erweitert und vertieft. Sich offensiv der Realität einer modernen Einwanderungsgesellschaft zu stellen, wäre ein demokratisches Projekt der Mitte in Deutschland, ganz gleich, ob sie sich eher liberal, eher konservativ oder eher links verortet. Für die einen ist es das republikanische Ideal der solidarischen Gleichheit, das sie mobilisieren könnten, für die anderen das der individuellen Autonomie und Selbstverwirklichung, für die anderen der Respekt vor Tradition und Ritualen - sie alle haben Gründe, in der gelebten Vielfalt einen Gewinn und keinen Verlust zu sehen.

Übrigens läge in einer solchen Vertiefung der Idee der Vielfalt auch ein Zugang zu jenen Menschen im Osten, die sich so heimatlos fühlen wie die, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Vielleicht wäre das auch die Chance, mehr über das sprechen, was uns tatsächlich allen gemeinsam ist, anstatt über das, was uns imaginär voneinander unterscheidet.

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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