Ausschreitungen in Chemnitz:Wir dürfen nicht zulassen, dass die einen als "echt" und die anderen als "unecht" gelten

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Das Publikum, das sich entscheiden muss, ob es gaffen oder einschreiten will, ob es die brutalisierte Menge belohnen will mit Aufmerksamkeit und Verständnis oder ob es denen beistehen will, die ausgesondert und gejagt werden - das sind wir alle. Für Gewalttäter, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht, sind die Strafverfolgungsbehörden zuständig. Für die anderen, die Angst haben auf der Straße oder in der Bäckerei, weil sie nicht wissen, ob andere sie als gleichwertig wahrnehmen, für diese Menschen sind wir alle zuständig. Es spielt keine Rolle, welchen Pass sie besitzen, ob ihre Eltern oder Großeltern zugewandert sind, es spielt keine Rolle, ob sie christlich oder muslimisch oder jüdisch oder gar nicht glauben. Niemand darf sich schutzlos ausgeliefert fühlen.

Wir müssen nicht nur in den Rand investieren, nicht nur Menschen in Chemnitz oder Sachsen ansprechen, sondern wir müssen die Gesellschaft im Kern demokratisieren. Wir dürfen nicht nur verhindern wollen, dass Menschen, die als Andere markiert werden, angegriffen werden. Das ist zu wenig. Sondern wir dürfen gar nicht erst zulassen, dass manche als Andere ausgesondert werden, dass die einen als "echt" und die anderen als "unecht" gelten.

Dazu muss diese Gesellschaft sich endlich als Einwanderungsland verstehen. Nicht nur als ein Staat, der sich irgendwann mal unwillig ein Einwanderungsgesetz gibt. Nicht nur als eine Gemeinschaft, die Einwanderer duldet, aber sie bei jeder Gelegenheit daran erinnert, dass sie immer noch etwas besser spielen, etwas weniger gläubig aussehen, etwas leiser auftreten müssen als alle anderen.

Ein Projekt für die Mitte: Deutschland als moderne Einwanderungsgesellschaft

Diese Republik ist kulturell und religiös vielfältig. Das ist keine normative Forderung, sondern eine empirische Feststellung. Sie ist vielfältig. Es gibt nicht nur das Versprechen auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, nicht nur die Garantie der Religionsfreiheit in unserem Grundgesetz, sondern Einwanderung und Migration waren immer schon Teil der Geschichte dieses Landes, so wie regionale und kulturelle Vielfalt Teil unseres föderalen Selbstverständnisses sind. Wer in der eigenen Familie Schleswig-Holsteiner und Rheinländer verbinden musste, weiß, wie mühsam dieser Anspruch sein kann. Es ist nicht verwerflich, die Bedingungen von kluger und gerechter Migrationspolitik zu diskutieren. Aber es ist unrealistisch, Migration nicht als soziale und politische Normalität einer globalisierten Welt zu begreifen.

Eine Demokratie lässt sich am lebendigsten verteidigen, indem man sie demokratisch erweitert und vertieft. Sich offensiv der Realität einer modernen Einwanderungsgesellschaft zu stellen, wäre ein demokratisches Projekt der Mitte in Deutschland, ganz gleich, ob sie sich eher liberal, eher konservativ oder eher links verortet. Für die einen ist es das republikanische Ideal der solidarischen Gleichheit, das sie mobilisieren könnten, für die anderen das der individuellen Autonomie und Selbstverwirklichung, für die anderen der Respekt vor Tradition und Ritualen - sie alle haben Gründe, in der gelebten Vielfalt einen Gewinn und keinen Verlust zu sehen.

Übrigens läge in einer solchen Vertiefung der Idee der Vielfalt auch ein Zugang zu jenen Menschen im Osten, die sich so heimatlos fühlen wie die, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Vielleicht wäre das auch die Chance, mehr über das sprechen, was uns tatsächlich allen gemeinsam ist, anstatt über das, was uns imaginär voneinander unterscheidet.

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Kolumne von Carolin Emcke

Carolin Emcke, Jahrgang 1967, ist Autorin und Publizistin. Im Jahr 2016 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Alle Kolumnen von ihr lesen Sie hier.

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