Ausnahmezustand im Westjordanland:Israels verschwundene Kinder

Palestinians sit outside their house as Israeli soldiers patrol near Hebron

Hebron: Israelische Soldaten sind im Westjordanland auf der Suche nach drei vermissten Jugendlichen

(Foto: REUTERS)

Israels Armee durchsucht Häuser und verhaftet Verdächtige auf der Suche nach drei Jugendlichen, die im Westjordanland verschwunden sind. Ein junger Palästinenser wird von Soldaten erschossen. Ministerpräsident Netanjahu beschuldigt die Hamas der Entführung - es geht ums große Ganze.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Rund um die Uhr ist die Armee nun im Einsatz, Häuser werden durchsucht, Verdächtige verhaftet. Nichts wird unversucht gelassen, um eine Spur zu finden von drei israelischen Jugendlichen, die am Donnerstagabend nahe einer Siedlung im palästinensischen Westjordanland verschwunden sind. Die Nation ist aufgewühlt wie selten, und als der Premierminister am Sonntag vor sein Kabinett tritt, da wird klar, wie viel nun vom Schicksal der Vermissten abhängt. "Mitglieder der Hamas sind für diese Entführung verantwortlich", sagt Benjamin Netanjahu. "Es ist dieselbe Hamas, die mit Präsident Abbas eine Einheitsregierung gebildet hat. Das wird ernste Konsequenzen haben."

Palästinenser-Präsident Abbas muss US-Außenminister Kerry Rede und Antwort stehen

Drei Familien bangen um ihre Söhne, doch im aufgeheizten Klima des Nahen Ostens geht es fast nie nur um Einzelschicksale, sondern allzu oft ums große Ganze. 2006 hatte die Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah zum Libanonkrieg geführt. Nun verknüpft die Führung in Jerusalem den jüngsten Fall mit der gerade gebildeten neuen palästinensischen Regierung zwischen der moderaten Fatah von Präsident Mahmud Abbas und der Hamas. Netanjahu hatte die Welt von Beginn an ohne große Resonanz gewarnt, dass sich Abbas dabei mit Terroristen einlasse.

Nun sieht er das als bewiesen an und macht den Palästinenser-Präsidenten persönlich "verantwortlich für jeden Angriff auf Israelis, der vom Westjordanland oder vom Gazastreifen ausgeht". Da nutzt es wenig, dass die in Ramallah regierende Autonomiebehörde darauf verweist, dass die drei Jugendlichen in einem Gebiet verschwanden, das wegen der dort gebauten Siedlungen unter voller Kontrolle der israelischen Armee steht.

Die beiden 16-jährigen Naftali Frenkel und Gilad Schaer sowie der 19-jährige Eyal Yifrah sind Schüler dortiger Religionsschulen. Am Wochenende wollten sie zu ihren Eltern nach Hause fahren - per Anhalter, wie es trotz vieler Warnungen der Sicherheitskräfte gang und gäbe ist im Siedlungsgebiet. An einer viel befahrenen Kreuzung nahe Bethlehem wurden sie zuletzt gesehen. Vermutet wird, dass sie dort in ein von ihren Entführern zuvor gestohlenes israelisches Auto gestiegen sind. Ein ausgebrannter Wagen wurde später weiter südlich in der Nähe von Hebron gefunden.

Junger Palästinenser erschossen

Seitdem herrscht Ausnahmezustand zwischen Bethlehem und Hebron. Israel verlegte zusätzliche Truppen in die Gegend, die jeden Stein umdrehen bei der Suche nach den drei Jugendlichen. Wie Zeugen und Ärzte berichteten, wurden die Soldaten am Montagmorgen bei einer Durchsuchungsaktion im Flüchtlingslager Al-Dschilasun nahe der Stadt Ramallah mit Steinen beworfen. Daraufhin hätten sie geschossen und einen 20-jährigen Palästinenser getötet. Ein weiterer sei verletzt worden.

Die Nachrichtenagentur AFP meldet am Montagmorgen, dass Israel wegen der Entführung den Präsidenten des palästinensischen Parlaments festgenommen habe. Asis Dweik, der der radikalislamischen Hamas angehört, wurde nach Angaben einer Armeesprecherin in der Nacht zum Montag zusammen mit 40 weiteren Verdächtigen festgenommen.

Zuvor waren bereits mehr als 80 Mitglieder der Hamas, unter ihnen mehrere Führungsfiguren im Westjordanland, in einer nächtlichen Razzia bereits verhaftet worden. Hebron, die größte Stadt im Westjordanland und ohnehin ein Pulverfass, ist komplett abgeriegelt. So soll verhindert werden, dass die Geiseln womöglich noch über Tunnel in den Gazastreifen oder auf den ägyptischen Sinai geschmuggelt werden. Dabei weiß niemand zu sagen, ob sie überhaupt noch leben.

Weitgehend hilflos muss Präsident Abbas von Ramallah aus die dramatischen Entwicklungen verfolgen. Sollten - wie von Netanjahu behauptet - tatsächlich seine neuen Partner von der Hamas in die Entführung verstrickt sein, befindet er sich in einer äußerst prekären Lage. Gerade erst hat er den Amerikanern und Europäern erklärt, dass sich mit Bildung der Einheitsregierung nichts am Kurs der Palästinenser ändern würde. Nun muss er US-Außenminister John Kerry gegenüber am Telefon Stellung beziehen. Kerry sagte am Sonntag, "viele Hinweise" deuteten auf eine Verwicklung von Hamas hin. Bei einer Beteiligung der Hamas wäre eine weitere Unterstützung des Westens für Abbas' Regierung kaum vorstellbar.

Familien von inhaftierten Hamas-Kämpfern hoffen auf Gefangenenaustausch

Der engen Sicherheitskooperation mit Israel folgend hat Abbas die palästinensischen Sicherheitskräfte angewiesen, die Suche der Israelis nach den Vermissten zu unterstützen. Sollte dies zum Ziel führen, dürfte ihm das allerdings von weiten Teilen seiner Bevölkerung übelgenommen werden. Schließlich gelten Entführungen spätestens seit der Verschleppung des israelischen Soldaten Gilad Schalit durch die Hamas in den Gazastreifen als erfolgversprechendes Mittel im Kampf gegen Israel. Schalit war nach fünfjähriger Geiselhaft im Oktober 2011 gegen mehr als tausend palästinensische Gefangene ausgetauscht worden. Freudenfeste im Westjordanland und im Gazastreifen waren die Folge.

Auch nun wurden wieder Freudenbekundungen aus dem Gazastreifen vermeldet, nachdem die Nachricht über die mutmaßliche neue Entführung bekannt geworden war. Familien von inhaftierten Hamas-Kämpfern verteilten in voreiliger Vorfreude auf einen möglichen Gefangenenaustausch Süßigkeiten an Passanten. Die Hamas hütet sich zwar, sich zur Tat zu bekennen und weist Netanjahus Vorwurf sogar als "närrisch" zurück. Allerdings macht sie auch keinen Hehl daraus, dass sie eine Entführung für ein Heldenstück hielte und kritisiert Abbas scharf für seine Sicherheitskooperation mit den Israelis.

Gut möglich, dass die nach siebenjährigem Bruderkrieg gerade erst zelebrierte Versöhnung zwischen Fatah und Hamas zu den Opfern dieses Falles zählen wird. Doch in Israels Öffentlichkeit geht es zunächst darum, schnellstmöglich das Schicksal der drei Vermissten aufzuklären. Netanjahu hat sie in einer Fernsehansprache an die Nation "unsere Kinder" genannt. Ein Armeesprecher versicherte, dass alles getan werde, "um die Jungs sicher und gesund nach Hause zu bringen". Wirtschaftsminister Naftali Bennett von der Siedlerpartei Jüdisches Heim aber denkt schon weiter. Auf seiner Facebook-Seite zitiert er schlicht einen Psalm: "Ich will meinen Feinden nachjagen und sie ergreifen und nicht umkehren, bis ich sie umgebracht habe."

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