Ausländerfeindlichkeit:Wenn sich die Normalität verschiebt

25 Jahre Lichtenhagen

Rostock-Lichtenhagen im August 1992: Brennendes Auto vor dem zentralen Asylbewerberheim

(Foto: dpa)

Warum es wichtig ist, an die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen von vor 25 Jahren zu erinnern. Und weshalb Widerspruch wichtig ist, wenn jemand sagt: Nun ist aber mal gut.

Kommentar von Ulrike Nimz

Zwanzig Jahre nach dem Brand eines Elfgeschossers in Rostock hatten die Menschen von "Lichtenhagen bewegt sich" eine Idee: Der Slogan des Bündnisses sollte in den Hausaufgängen des Stadtteils hängen. Er lautete "Gemeinsam füreinander". Es dauerte gerade einen Tag, bis die ersten Plaketten mit der Sonnenblume darauf abgerissen waren.

Ein handgreiflich gewordenes: Nun ist aber mal gut.

Fünf Jahre später, so viel lässt sich sagen, ist es nicht gut. Noch immer brennen Flüchtlingsheime, noch immer steht Pegida montags in der Dresdner Innenstadt, noch immer schweigt Beate Zschäpe.

Man kann das zum Anlass nehmen, nach dem Sinn ritualisierten Gedenkens zu fragen und warum nicht in gleichem Maße an Mölln oder Solingen erinnert wird. Das liegt zum einen daran, dass das Versagen von Politik und Polizei nirgends so unmittelbar zutage trat wie in Rostock.

Es liegt auch daran, dass die Täter nicht heimlich kamen, sondern den Zivilisationsbruch vor laufenden Kameras zelebrierten. Wer keinen Stein oder ein Bier in der Hand hielt, klatschte, als die ersten Scheiben klirrten. Andere fuhren ihr Auto weg, als hätte sich ein Hagelschauer angekündigt und kein Pogrom.

Es ist nicht normal, Steine auf Menschen zu werfen

Im Spielfilm "Wir sind jung. Wir sind stark.", dessen Verdienst es ist, weniger die Ereignisse jener Augustnächte zu rekonstruieren, sondern den Zeitgeist, gibt es eine Szene, in der ein Punkmädchen den Protagonisten fragt: Bist du rechts oder links?

Eine Frage, die in den 90er-Jahren unter Jugendlichen durchaus üblich war, ein Kompass im ideologischen Brachland der Nachwendezeit. Im Film antwortet der Junge, der später Steine schleudern und Feuer legen wird: Kann man nicht einfach nur normal sein?

Es ist nicht normal, Steine auf Menschen zu werfen. Es ist nicht normal, Politiker als Volksverräter zu beschimpfen. Aber was, wenn es jeden Tag passiert? Was, wenn diese Leute Nachbarn sind? "Normal" ist ein trügerischer Begriff, weil er so viele Wirklichkeiten birgt, wie es Menschen gibt.

Das zeigt sich dann, wenn die Bürger von Brüssel, Berlin, Barcelona am Folgetag eines Terroranschlags ihren Geschäften nachgehen, aber Rechtsextreme in Reihenhäusern von Bürgerkrieg faseln und von der Notwendigkeit, für Ordnung zu sorgen. Eine Ordnung, in der kein Platz ist für irgendwen, der anders ist als sie selbst.

Wer weiß schon, wer der nächste Sündenbock ist?

Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer hat das die "Verschiebung der Normalität" genannt. Sie wird durch Sprache vorangetrieben, Entscheidungsträger und Titelseiten. Die Normalität ist in den vergangenen fünf Jahren gehörig verschoben worden, durch Leute wie Sarrazin, Petry, Trump.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit funktioniert immer gleich. In Lichtenhagen ließ sich das beobachten, noch bevor Brandsätze flogen: Fidschis? Fleißig. Zigeuner?

Schmutzig. Eine Rostocker Tageszeitung mutmaßte seinerzeit gar, dass die Menschen, die vor der Mecklenburger Allee 18 kampieren mussten, Möwen grillten. Und hinterher wundern sich alle, dass Neonazis aus ganz Deutschland den Volkswagen volltanken und bei der Party dabei sein wollen.

"Man darf nicht darüber schweigen, man will nicht darüber reden, also muss man redend schweigen", hat Roger Willemsen im Buch "Deutschlandreise" geschrieben, für das er 2001 an der Seite eines smalltalkenden Taxifahrers durch Lichtenhagen fuhr.

Das ist ein guter Satz. Besser wäre gewesen, aus dem Taxi auszusteigen. Denn wenn sich Normalität verschiebt, geschieht das für gewöhnlich unbemerkt. Manchmal unbemerkt von jenen, deren Job es ist zuzuhören.

Hat Angela Merkel etwas gespürt, als sie vergangene Woche auf dem Marktplatz von Annaberg-Buchholz ein gellendes Pfeifkonzert übertönen musste? Wird sie künftig öfter ins Erzgebirge fahren? Nach Rostock reist sie in dieser Woche wohl nicht.

Hass verschwindet nicht, er wandelt sich und wandert

Oft ist gefragt worden, warum der Mob, nachdem die Roma in Busse gesetzt worden waren, auch die vietnamesischen Vertragsarbeiter im Nachbarhaus angriff. Gesellschaftliche Tektonik setzt Energie frei, manchmal in Form von Hass. Er verschwindet nicht, er wandelt sich und wandert.

Vom Stammtisch ins Internet, von Fremden zu Frauen, wer weiß schon, wer der nächste Sündenbock ist? Die Menschen, die in Todesangst auf das Dach des Sonnenblumenhauses flohen, mögen Ziel des Hasses gewesen sein, die Ursache waren sie nicht.

Es ist wichtig, dass die Rostocker einmal im Jahr nach Lichtenhagen schauen. Es ist richtig, dass das Land alle fünf Jahre nach Rostock schaut. Nötig ist, dass sich jeder Einzelne jeden Tag umschaut. Nötig ist zu widersprechen, wenn jemand sagt: Nun ist aber mal gut. Es geht darum, in welcher Normalität diese Gesellschaft leben will.

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