Ausgrenzung von Minderheiten:"Explosive Situation als Dauerzustand"

Muslime, Behinderte, Langzeitarbeitslose: Seit Jahren beschäftigt sich der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer mit der Frage, wie die deutsche Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgeht. Werden sie ausgegrenzt oder gar gefährdet? Der aktuelle Band der "Deutschen Zustände" gleicht einem Alarmruf - und das, obwohl die Deutschen im vergangenen Jahrzehnt weniger "menschenfeindlich" geworden sind.

Felix Berth und Malte Conradi

Wenn Wilhelm Heitmeyer zufrieden sein sollte, dann kann er es ganz gut verbergen. Zwar gäbe es für den Bielefelder Pädagogen durchaus einen beruflichen Erfolg zu feiern, schließlich stellt er an diesem Montag den zehnten Band seiner Langzeit-Untersuchung Deutsche Zustände vor.

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Negativen Äußerungen gegen Behinderte stehen die Deutschen mittlerweile kritischer Gegenüber als noch vor zehn Jahren - dennoch bleibt Diskriminierung auch hier ein schwieriges Thema.

(Foto: ddp)

Im gesamten vergangenen Jahrzehnt hat der Konfliktforscher Heitmeyer die Bundesbürger kontinuierlich befragt, wie sie über die Schwachen im eigenen Land denken. Aus Sicht eines Wissenschaftlers dürfte allein das ein Erfolg sein: ein Langzeitprojekt abgeschlossen, zehn Bände bei Suhrkamp veröffentlicht, meist mit ordentlicher Resonanz in der Öffentlichkeit.

Doch Heitmeyer hält sich bei seiner Präsentation in der Bundespressekonferenz zurück, wie sich das für einen Wissenschaftler gehört. Schließlich ist er überzeugt, dass der soziale Friede in Deutschland gefährdet ist: Die Nervosität steige in allen gesellschaftlichen Gruppen, denn man habe ein "entsichertes Jahrzehnt" hinter sich.

Vielen Bürgern sei das Gefühl von Stabilität abhandengekommen. "Volatilität" - der Begriff aus der Börsensprache, der die Wahrscheinlichkeit plötzlicher Schwankungen meint - sei inzwischen ein tauglicher Begriff, um die deutsche Alltagsrealität zu beschreiben: Nichts ist mehr gewiss, nichts ist unmöglich.

Düstere Einschätzungen, düstere Begriffe. Natürlich muss da der persönliche Erfolg des Wissenschaftlers Heitmeyer hintanstehen: Wer eine Krise benennt, tut das mit der gebotenen Zurückhaltung. Kassandra soll bei ihren Prophezeiungen ja auch nicht gerade fröhlich gewesen sein.

Auf den ersten Blick wirken Heitmeyers Befunde tatsächlich nicht anheimelnd. Knapp zehn Prozent der Deutschen hängen rechtspopulistischen Ansichten an; einer Aussage wie "Es leben zu viele Ausländer in Deutschland", stimmte im Jahr 2011 fast die Hälfte der Befragten zu. Jeder Fünfte findet die Behauptung akzeptabel, dass "Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden" sollte; die Hälfte der Deutschen schließlich sind der Meinung, dass "die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert sind, einen Job zu finden".

Heitmeyers Verdienst ist es, die Frage nach dem Umgang einer Gesellschaft mit ihren schwächeren Mitgliedern so beharrlich gestellt zu haben. Er hält an der Idee fest, dass die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Sicherung ihrer Unversehrtheit zu den zentralen Werten einer humanen Gesellschaft gehören. Und gerade deshalb stellt er die Frage, wie es mit der Gleichwertigkeit der Schwächeren aussieht: Werden sie ausgegrenzt? Sind sie gefährdet von einer Mehrheit, die es nicht gelernt hat, auf Minderheiten zu achten?

Ressentiments gegen Muslime und Juden

Die Diagnose für das Jahr 2011, die Heitmeyer und sein Team im zehnten Band der Deutschen Zustände erstellen, gleicht einem Alarmruf. In der ökonomischen Sphäre dominiere die Mentalität der Besserverdienenden, "die von der Maxime, laut der Eigentum verpflichtet, wenig wissen will". In der Sphäre der Politik seien Vertrauensverluste der Bürger festzustellen; dies seien "ernste Warnsignale, da die Anfälligkeit für rechtspopulistische Mobilisierungen auffällig ist".

Bei sozialen Themen, so Heitmeyer, zeige sich die "Statusunsicherheit" vieler Bürger, die viele dazu verleite, etwa Hartz-IV-Empfänger als "nutzlos" und "ineffizient" abzuwerten. Schließlich noch die Welt der Religion: Auch hier sei das friedliche Zusammenleben der Menschen latent gefährdet; viele Ressentiments richteten sich gegen Muslime und Juden. Heitmeyers Schlussfolgerung: Es habe sich "eine explosive Situation als Dauerzustand" etabliert.

"Explosive Situation als Dauerzustand"

Diese Metapher allerdings irritiert ein wenig. Sie signalisiert höchste Gefahr für das Land ("explosive Situation"); man fühlt sich erinnert an die Schlussphase der Weimarer Republik, als der Antisemitismus grassierte, als Straßenschlachten zwischen Nationalsozialisten und Linken alltäglich waren und Politiker nicht für Entspannung sorgen konnten. Doch weil solche "Explosionen" in der Bundesrepublik des Jahres 2011 offensichtlich ausbleiben, weicht Heitmeyer auf das Bild der Bedrohung aus: Die politische "Explosion" ist noch nicht geschehen, aber sie könnte schon bald erfolgen.

Dabei zeichnen Heitmeyers eigene Daten zum Teil sogar ein anderes Bild. In den vergangenen zehn Jahren fielen die Antworten der zweitausend Befragten oft weniger "menschenfeindlich" aus, wie der Begriff der Bielefelder Forscher heißt. So ging der Antisemitismus zwischen 2002 und 2011 deutlich und signifikant zurück; ähnlich deutlich schwand die Zahl derer, die die Gleichberechtigung der Frauen ablehnen.

Auch abfällige Äußerungen über Behinderte finden inzwischen ebenfalls weniger Zustimmung. Und dass in Berlin ein Homosexueller zum Bürgermeister gewählt wird, überrascht nicht, wenn man Heitmeyers Daten liest: Die Homophobie war in den vergangenen sechs Jahren - vorher wurde dieses Thema von den Bielefelder Wissenschaftlern nicht erfasst - ebenfalls im Schwinden begriffen.

Natürlich belegen diese Trends nicht, dass die Bundesrepublik damit ein hochgradig liberales, weltoffenes Land geworden wäre. Denn ein Teil der Befunde für das Jahr 2011 ist durchaus beunruhigend: Ein Drittel der Bevölkerung haben große Schwierigkeiten, Muslimen gegenüber tolerant zu sein. Und ähnlich viele Deutsche lassen sich als fremdenfeindlich beschreiben. Das sind besorgniserregende Momentaufnahmen einer Gesellschaft, in der Gewalt gegen Einwanderer von Einzelnen verübt und von vielen gebilligt wird.

Ein bisschen weniger Apokalypse

Doch diese Momentaufnahmen der "Deutschen Zustände" sind das eine; das andere sind die deutschen Trends des vorigen Jahrzehnts, die sich mit den Bielefelder Befragungen eben auch nachzeichnen lassen. Wer diese Trends betrachtet, blickt auf eine Gesellschaft, die in diesem Jahrzehnt zumindest partiell weniger menschenfeindlich geworden ist. Markante dramatische Entwicklungen - etwa in Form einer deutlich steigenden Aversion gegen Schwächere - zeigen sich bei den Antworten der Befragten eben nicht.

Vielleicht wäre deshalb bei der Beschreibung der hiesigen Zustände ein bisschen weniger Apokalypse angebracht. Vor vier Jahren hatte das ein älterer Herr einmal angeregt: Nach einem Vortrag Heitmeyers am Wissenschaftszentrum Berlin meldete sich damals ein sehr schmaler, sehr disziplinierter Mann aus einer der hinteren Reihen zu Wort. Es war Ralf Dahrendorf, einer der großen liberalen Streiter des vergangenen Jahrhunderts.

Mit seiner historischen Erfahrung - Geburtsjahr 1929 - und seiner analytischen Brillanz empfahl er Heitmeyer und allen anderen anwesenden Sozialwissenschaftlern, mit dem Wörtchen "Krise" sehr, sehr sparsam umzugehen. Es war eine Wortmeldung, die offenbar nicht alle Anwesenden überzeugte.

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