Wie lässt sich das Unvorstellbare dokumentieren? Die Augenzeugenberichte aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau sind vielfältig und wichtig - und doch ragen einige Bücher heraus. Zweifellos dazu gehört das nun eben wieder aufgelegte "Sonderbehandlung. Meine Jahren in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz" von Filip Müller (1922 - 2013). Seine Familie hat die Edition zu seinem 100. Geburtstag ermöglicht. Die Lektüre führt in den Grenzbereich menschlichen Verhaltens und den Leser an den Rand des Erträglichen, doch muss man sich stets vor Augen führen, dass die "hier beschriebenen Schrecken nur ein blasser Schatten des ursprünglich Geschehenen" sind, wie der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, im Vorwort schreiben.
Filip Müller, ein slowakischer Jude aus Sered, wurde im April 1942 nach Auschwitz deportiert, er blieb dort bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945 - und die allermeiste Zeit musste er im "Sonderkommando" von zeitweise mehr als 800 Juden "arbeiten", die für die Verbrennung der Leichen und die Beseitigung der Asche der in den Gaskammern Ermordeten zuständig waren. Nur durch Glück und zahllose Zufälle überlebte Müller diese Hölle, denn als "Geheimnisträger" des Menschheitsverbrechens der Nazis war er letztlich ebenfalls die ganze Zeit ein Todgeweihter. Nur wenige Dutzend Männer des "Sonderkommandos" erlebten das Kriegsende.
Müller schreibt nüchtern, detailliert und erlaubt sich wenige Emotionen; für seinen Bericht, der erstmals 1979 erschien, brauchte er mehr als zehn Jahre. Ein Beispiel: Zweitausend Menschen stehen vor der Gaskammer, alle sind entkleidet. Ihr Schicksal ist ihnen gerade bewusst geworden. Die Menschen beten gemeinsam ein alttestamentarisches Beichtgebet. "Oberscharführer Voß stand mit seinen Kumpanen in der Nähe der SS-Führer und blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr. Die Andacht hatte inzwischen ihren Höhepunkt erreicht. Die Menge betete jetzt laut den Kaddisch, das Totengebet, das sonst nur die Hinterbliebenen für einen Verstorbenen beten. Aber da nach ihrem Ende keiner mehr da war, der für sie hätte beten können, sprachen die Todgeweihten den Kaddisch noch zu ihren Lebzeiten. Dann gingen sie in die Gaskammern. Blauviolette Zyklon-B-Kristalle löschten ihr Leben aus, während im Lager und im Sonderkommando der übliche Alltag weiterging."
Dem Historiker Andreas Kilian, einem der besten Kenner der Geschichte des "Sonderkommandos", sagte Müller einmal: "Meine Aufgabe war es, zu zeigen, was sich zwischen den Wänden abgespielt hat und wie es möglich war, innerhalb von 24 Stunden fast zwanzigtausend Menschen zu erledigen." Diesem "überwältigenden Inferno" (Kilian) sollte sich stellen, wer auch nur erahnen will, was der Holocaust gewesen ist.