Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning:Warum auch greise Nazis vor Gericht gehören

Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning: Das ehemalige Tor zu Hölle: Die berüchtigte Rampe im Todeslager Auschwitz-Birkenau

Das ehemalige Tor zu Hölle: Die berüchtigte Rampe im Todeslager Auschwitz-Birkenau

(Foto: AP)

Jahrzehntelang wurde die Bestrafung der Nazimörder hinausgeschoben. Inzwischen stellt die Justiz auch mutmaßliche Mordgehilfen vor Gericht. Wie Oskar Gröning, 93, ehemals SS-Mann in Auschwitz.

Kommentar von Heribert Prantl

Eigentlich müsste jeder dieser späten Strafprozesse mit einem Schuldbekenntnis der Justiz beginnen - mit einer Erklärung, warum der Angeklagte erst jetzt, als Greis, vor Gericht steht. Eigentlich müsste der Richter am Beginn einer solchen Verhandlung darlegen, warum nicht schon vor fünfzig, dreißig oder wenigstens vor zwanzig Jahren verhandelt worden ist.

Eigentlich müsste die bundesdeutsche Justiz nach Aufruf der Sache "Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen" erst einmal die Opfer und die Welt um Verzeihung bitten dafür, dass sie die Bestrafung der Nazimörder so lange hinausgeschoben hat - so lange, bis Bestrafung eigentlich keinen Sinn mehr macht. Aber solche Bekenntnisse sind nicht vorgesehen in der Strafprozessordnung.

Feststellung der persönlichen Schuld

Es ist dort auch nicht vorgesehen, dass Bestrafung keinen Sinn mehr ergibt. Aber just so ist es; alle Regeln über Strafzumessung kann man in diesen letzten Verfahren gegen NS-Schergen vergessen: Bei den Angeklagten, die am Lebensende stehen, geht es nicht um eine Strafe, die in Zeit bemessen wird; sie wird in Ewigkeit gemessen. Sie besteht in der Feststellung der persönlichen Schuld des Angeklagten; in der gerichtlichen Feststellung der grausamen Wahrheit - "im Namen des Volkes" .

Die Richtergeneration von heute kann nichts dafür, dass es juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen jahrzehntelang kaum gegeben hat. Sie tut jetzt, was noch getan werden kann. Sie holt nach, was noch nachgeholt werden kann. Sie schraubt Gedenktafeln an die Justizgebäude, auf denen die Namen der verfemten und ermordeten jüdischen Mitarbeiter stehen. Und sie verhandelt gegen die letzten Täter und Gehilfen, die noch leben.

Viele Gerichtspräsidenten heute lassen die Geschichte ihrer Gerichte schreiben, schonen ihre Nazi-Vorgänger nicht und scheuen sich auch nicht mehr festzustellen, dass so viele Nazi-Richter einfach das Hakenkreuz von der Robe gerissen und in der Bundesrepublik weitergerichtet haben.

Erst Demjanjuk brachte die Wende

In München wurde 1954 ein überzeugter Nationalsozialist Präsident des Oberlandesgerichts. Er hatte 1937 als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht München den Nazigegner Pater Rupert Mayer angeklagt, den großen katholischen Prediger.

Und so war es überall in der Bundesrepublik: unter der Robe das alte Braun. Die Justiz warf sich mit absichtsvoller Verbissenheit in den Kalten Krieg, dass für die NS-Vergangenheit keine Energie blieb.

Mit dem Auschwitz-Prozess von 1964/65 begann zwar die Aufklärung der Gesellschaft über den Holocaust. Dieser Prozess war das Werk eines Einzelnen, des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer; ohne diesen Mann, der 1968 starb, wäre die Öffentlichkeit noch viel länger vor den NS-Verbrechen davongelaufen. Aber die juristische Aufklärung blieb eine lau betriebene Sache.

Die Justiz tat so, als habe es nur einen einzigen Täter, nämlich Hitler, im Übrigen aber nur Gehilfen gegeben. Und auch diese Gehilfen wurden geschont - ihren Opfern aber abverlangt, sich an jedes Detail ihrer Qualen samt Uhrzeit und Wetter zu erinnern.

Erst der Demjanjuk-Prozess von 2011 brachte die entscheidende Wende: Seitdem gilt jede Form des Mitwirkens an der NS-Todesmaschinerie als Beihilfe zum Mord. Deswegen kann heute Oskar Gröning, der Buchhalter von Auschwitz, noch vor Gericht gestellt werden.

Was jetzt passiert - es ist die Judikatur der letzten Sekunde. Es ist gut, dass es diese letzte Sekunde gibt. Es ist gut, wenn die Justiz diese Sekunde anzuhalten versucht: nicht um mit der Bestrafung von Greisen ihre eigenen Versäumnisse auszugleichen; sondern um zu tun, was noch getan werden muss: die Negation der unfassbaren Negation des Rechts im Nationalsozialismus fassbar zu machen für alle Zeit.

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