Auschwitz-Prozess:Buchhalter des Todes

Former bookkeeper at Auschwitz Groening waits for start of his trial in Lueneburg

"Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden": Oskar Gröning auf der Anklagebank in Lüneburg.

(Foto: Julian Stratenschulte/Reuters)

Mit Rollator und auf Helfer gestützt kommt der 93 Jahre alte Angeklagte Oskar Gröning in den Gerichtssaal. Im KZ hielt er akribisch fest, was den Deportierten gestohlen wurde. Nun bittet er um Vergebung.

Von Peter Burghardt, Lüneburg

Auch sie hört zu, als er spricht. Eva Mozes Kor, 81 Jahre alt. Häftling A-7063, die eintätowierte Nummer verblasst am linken Unterarm. Wie andere Überlebende des Holocaust hat sie Jahre, Jahrzehnte, ein Leben lang auf einen solchen Moment gewartet. Weit ist sie dafür gereist. Es wird still, totenstill, an diesem Dienstagmorgen im Lüneburger Landgericht, als der frühere SS-Mann Oskar Gröning, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord an 300 000 Menschen im Konzentrationslager Auschwitz, mit seiner Aussage beginnt. Eine Stunde lang spricht er schon, ein verstörender Vortrag ist es über seine Zeit im Büro und an der Rampe des Todescamps, da sagt er diesen Satz: "Es steht für mich außer Frage, dass ich moralisch mitschuldig bin. Auch hier, in Reue und Demut vor den Opfern."

Den ausländischen Gästen wird simultan auf Englisch, Hebräisch und Ungarisch übersetzt, Tausende Gedanken fliegen ihnen wohl nun durch den Kopf. Gröning ist 93 und damit älter noch als die meisten Menschen, die der Hölle entkamen und ihm in diesem Verhandlungsraum begegnen. Weißgraue Haare hat er, stützt sich auf Helfer und Rollator, als er zwischen seinen Verteidigern Platz nimmt. Aber er ist, anders als die meisten hochbetagten NS-Beschuldigten, verhandlungsfähig, und mit seiner Aussage beginnt dieses historische Verfahren. "Ich bitte um Vergebung", schließt Gröning eher beiläufig. "Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden."

Allein, dass dieses Verfahren noch stattfindet, gilt als Erfolg

Bis Juli wollen die Lüneburger Richter ein Urteil fällen. Aber schon der Start dieses Verfahrens gilt als Erfolg, wenn auch als ein verheerend später Erfolg. Nach den Frankfurter Auschwitz-Prozessen der Jahre 1963ff. war jahrzehntelang wenig passiert bei der Suche nach den Handlangern des Holocaust. Die Ermittlungsakten gegen Oskar Gröning wurden wie Tausende weitere ins Archiv gelegt. Erst nach quälend langer Verzögerung setzte sich die Erkenntnis durch, dass Mord nicht verjährt und dass Morde in den Vernichtungslagern nicht als bloße Beihilfe verniedlicht werden dürfen. So erhob die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage gegen den einstigen Auschwitz-Bürokraten und heutigen Pensionär aus der Lüneburger Heide.

Entscheidend mitgeholfen haben die Vertreter der Nebenkläger, Anwälte wie Thomas Walther und Cornelius Nestler. Manche ihrer Mandanten, Max Eisen etwa und Bill Glied aus Kanada, haben gerade erst an einem "Marsch der Lebenden" zum KZ Auschwitz-Birkenau in Polen teilgenommen. Éva Pusztai-Fahidi, fast 90, kommt aus Budapest. Die Nazis ermordeten ihre Mutter, ihren Vater, Geschwister und weitere Verwandte, sie blieb zurück, weil sie arbeiten konnte. Eva Mozes Kor wurde mit zehn Jahren aus Rumänien deportiert und in Auschwitz vom Terrorarzt Josef Mengele gequält, ihre Eltern und ihre Zwillingsschwester wurden vergast. "In einer halben Stunde war meine ganze Familie weg", sagt Eva Mozes Kor, eine kleine Frau mit blauem Hemd und türkisfarbener Jacke.

Sie ist aus ihrer Wahlheimat USA nach Norddeutschland geflogen. Diese idyllische Provinzstadt Lüneburg, die mit ihren alten Bürgerhäusern von den Bomben weitgehend verschont geblieben ist, bietet eine fast surreale Kulisse für das Verfahren. Es geht in der Causa Gröning um die sogenannte Ungarn-Aktion, als 1944 Hunderttausende Juden aus dem Land nach Auschwitz verschleppt wurden. Der Staatsanwalt Jens Lehmann berichtet von Selektion, Gaskammern und davon, wie grausam Zyklon B die Atmung lähmt, mit Krämpfen im Todeskampf, "manche Leichen mussten mit Äxten getrennt werden". Er nennt Namen der Toten und listet das auf, was Gröning als Mitarbeiter der Tötungsmaschinerie, als Verwalter von Wertsachen und Gepäck der Toten und Zwangsarbeiter getan hat.

"Ich möchte aussagen"

Dann ist der Angeklagte an der Reihe. Oskar Gröning, geboren 1921 in Nienburg. "Beruf?", fragt der Vorsitzende Richter Franz Kompisch. "Rentner." Kinder? "Zwei. 65 und 70." Will er reden? "Ich möchte aussagen." Er wiederholt ungefähr das, was er in ein paar Interviews bereits früher gesagt hatte. Wie er sich nach einer Banklehre bei der Sparkasse zur SS gemeldet hat und im Herbst 1942 in diesen polnischen Ort geschickt wurde, der unter seinem deutschen Namen Auschwitz in die Geschichte eingehen sollte. Er bekomme "eine Tätigkeit, die Ihnen sicher nicht angenehm sein wird", gaben ihm die Vorgesetzten in Berlin mit auf den Weg.

Gröning registrierte und hortete die Devisen, die den Gefangenen und Todgeweihten an der Rampe in Auschwitz abgenommen wurden. "Häftlingsgeldverwahrung" hieß das im Jargon der Nazis, kurz HGV. Gröning war einer der Buchhalter von Auschwitz, einer der Schatzmeister von Birkenau. Zwischendurch holte er das Diebesgut aus seinem Tresor und brachte es nach Berlin, und zwischendurch stand er auch mal an den Gleisen und passte auf die Koffer der Deportierten auf. Damit nicht geklaut wurde, behauptet er. Um Spuren zu verwischen, sagt die Justiz. "Entsorgt" würden diejenigen, die nicht arbeiten könnten, habe man ihm erklärt. Gröning erläutert, wie er mit den Kameraden aus Flaschen Wodka trank. "Das sind Eindrücke, die sich nicht aus dem Gedächtnis streichen lassen." Als er seine Mineralwasserflasche aufschraubt, verkündet er: "Ich mach' das so wie in Auschwitz mit dem Wodka" - als erwarte er Lacher.

Dreimal will Gröning um seine Versetzung aus Auschwitz gebeten haben

Sein Auftritt ist seltsam unbeholfen, mal scheint es, als wolle er kumpelhaft wirken, oft berichtet er detailliert und emotionslos. Er erzählt, wie ein SS-Scherge ein schreiendes Baby gegen einen Lkw schleuderte, bis es still war. "Da blieb mir das Herz stehen. Was der gemacht hat, fand ich gar nicht gut", so formuliert er. Gröning erzählt, was er im Wald neben dem Lager miterlebte. Er schildert, wie eine Gaskammer funktionierte, wie einer das Gift in die Klappe kippte, wie die Schreie drinnen erst lauter wurden und schnell verstummten. "Einer hat geschaut, ob alle tot waren." Aus 80 Metern Entfernung sah er die Verbrennung der Toten.

Der Kassenwart Gröning überstand Fleckentyphus und wurde zum Unterscharführer befördert. Zweimal habe er vergeblich um Versetzung gebeten, "ich wollte damit nichts zu tun haben". Man habe ihn jedoch an seinen Treueschwur zum Führer erinnert, die Gesuche seien komischerweise aus seiner Akte verschwunden. Beim dritten Versuch kam er wie gewünscht an die Front und wurde 1948 aus britischer Gefangenschaft entlassen.

Einen Holocaust-Leugner belehrte er später, in Auschwitz seien "1,5 Millionen Juden ermordet worden". Auch als Belastungszeuge trat Gröning auf. Lüneburgs Gericht wird befinden, was seine moralische Schuld bedeutet. "Niemand kann die Vergangenheit ändern", sagt die Zeugin Eva Mozes Kor, die in Indiana ein Holocaust-Museum eröffnet und den Nazis für ihren Teil vergeben hat, über Grönings Aussage. "Aber es ist besser als nichts."

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