75 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz:Gegen die Legendenbildung

75th anniversary of the liberation of the Nazi German concentration and extermination camp Auschwitz and International Holocaust Victims Remembrance Day

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee den Lagerkomplex Auschwitz.

(Foto: REUTERS)

Die Zeitzeugen und Überlebenden des Holocaust verstummen allmählich. Ihr Erbe aber muss Verpflichtung bleiben - nicht nur bei institutionalisierten Gedenkfeiern.

Kommentar von Alexandra Föderl-Schmid

Yad Vashem, Auschwitz, Berlin: Das Erinnern aus Anlass des 75. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ist omnipräsent. Begleitend zu den Auftritten der Politiker gibt es eine Fülle von Dokumentationen. Bei vielen löst diese Flut an "Nie wieder"-Beschwörungen "Ach, schon wieder"-Reaktionen aus. Hatte nicht Martin Walser 1998 von der "Moralkeule Auschwitz" gesprochen und der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß 30 Jahre zuvor davon, dass "ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat", ein Recht darauf habe, "von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen"?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Donnerstag in Yad Vashem die Begründung dafür geliefert, warum man sich jetzt erst recht mit den Geschehnissen von damals auseinandersetzen muss: Gerne würde er feststellen, dass alle Deutschen aus der Geschichte gelernt hätten. "Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden."

Steinmeier hat den richtigen Ton getroffen und den Bogen von der Vergangenheit zu den Herausforderungen der Gegenwart und denen der Zukunft gespannt. Seine Rede, die erste eines deutschen Staatsoberhaupts in der Gedenkstätte Yad Vashem, wird zu Recht in Israel in die Reihe denkwürdiger Auftritte gestellt, zu denen der Kniefall Willy Brandts für die Toten des Warschauer Ghettos und Richard von Weizsäckers klare Worte zum "menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" gehören.

Auschwitz steht für das nicht vorstellbare Grauen des industriellen Massenmordes an sechs Millionen Juden. Das wird das Verhältnis von Deutschland zu Israel immer prägen. Aus "tief beladener Schuld", wie Steinmeier sagte, erwächst Verantwortung. Aus "Nie wieder Auschwitz" ist "Nie wieder Krieg" geworden, das zur Raison d'Être aller europäischen Staaten und Institutionen gehören muss.

Um die institutionalisierte Erinnerung braucht man sich keine Sorgen zu machen - jedenfalls solange nicht Politiker wie Alexander Gauland von der AfD in einer Bundesregierung vertreten sind, für den "Hitler und die Nazis nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte" sind. Gedanken muss man sich aber um das individuelle Erinnern machen: Wie erreicht man Menschen, die unter dem Deckmantel "man wird doch noch sagen dürfen" antisemitische und rassistische Äußerungen von sich geben?

Gedenken nicht nur an Jahrestagen zelebrieren

Der Judenhass dringt wieder an die Öffentlichkeit und führt zum Erstarken der Rechten. Auch in Ländern wie Österreich war der braune Bodensatz stets da. Dazu kommt Antisemitismus von Zuwanderern aus muslimischen Ländern, in denen das Existenzrecht Israels keine Selbstverständlichkeit ist. Übergriffe auf Juden in Europa und den USA häufen sich, sie werden wieder bedroht und bespuckt.

Das löst bei all jenen, die das und noch Schlimmeres in den Dreißiger- und Vierzigerjahren erlebt haben, Ängste aus. Viele von ihnen haben jetzt erst den Mut und die Kraft, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Viele tun dies im Bewusstsein, dass es ihre letzte Chance ist: aufzuschreien, aufmerksam zu machen, einzugreifen.

Aber wie geht man mit dem Gedenken an die Schoah um, wenn es jene nicht mehr gibt, welche die Hölle der Lager, die Erniedrigungen und Erfahrungen der Vertreibung am eigenen Leib erfahren haben? Knapp 200 000 leben in Israel noch, die den Holocaust überlebt haben, jeden Tag sterben etwa 30. Primo Levi, dessen Eltern umgebracht wurden und der sich bis zu seinem Tod 1987 als Schriftsteller mit seiner Zeit in Auschwitz auseinandergesetzt hat, warnte: "Wenn unsere Zeugenschaft fehlt, werden in nicht ferner Zukunft die bestialischen Taten der Nazis, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, unter Legenden eingereiht werden können."

Dieser Legendenbildung muss entgegengewirkt werden. Aussagen der Zeitzeugen sollten mit allen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters aufgezeichnet und verbreitet werden. Jeder Schüler und jede Schülerin sollte eine KZ-Gedenkstätte besucht haben. Das sollte zur Verpflichtung werden. Wenn die Zeugen verstummen, dann bleiben ihre Schuhe, ihre Brillen und ihre Zahnbürsten. Wer in Auschwitz-Birkenau war, kann sich zwar noch immer nicht vorstellen, wie man so etwas Ungeheuerliches getan hat, bis zu 60 000 Menschen an einzelnen Tagen zu vernichten. Aber aus der direkten Auseinandersetzung erwachsen Wachsamkeit und Verantwortung.

Es ist wichtig, neue Wege zu beschreiten, um auch junge Menschen zu erreichen: Der israelische Regisseur Matti Kochavi initiierte die "Eva Stories": Geschichten auf Instagram der 13 Jahre alten Eva Heymann aus Ungarn, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Die Gedenkstätte Auschwitz stellt auf Twitter täglich eine Biografie von Ermordeten vor. Genau das sind Möglichkeiten, dass Gedenken und Erinnerung nicht nur an Jahrestagen - und das mit Wucht - zelebriert werden.

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FILE PHOTO: A view from below shows pictures of Jews killed in the Holocaust displayed at the Hall of Names in the Holocaust History Museum at the Yad Vashem World Holocaust Remembrance Center in Jerusalem

Leserdiskussion
:Wie bleibt die Erinnerung an den Holocaust präsent?

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