Süddeutsche Zeitung

Auschwitz-Besuch des Dachauer Stadtrats:Kleine Schritte

Die Dachauer haben lange nach einem Weg gesucht, mit dem Nazi-Erbe ihrer Stadt umzugehen. Er führte sie schließlich nach Auschwitz. Bericht von einer schwierigen Reise.

Von Helmut Zeller, Auschwitz

Am Ende blieben sie unbemerkt. Das hatten die Dachauer Stadträte sich am meisten gewünscht. In der Masse der Touristen, die jeden Tag die KZ-Gedenkstätte Auschwitz besuchen, gerieten die 26 Kommunalpolitiker aus Bayern nicht ins Blickfeld der internationalen Presse. Gleich bei ihrer Ankunft in Krakau hatte die einheimische Stadtführerin die Dachauer zu beruhigen versucht: Sie seien Besucher wie alle anderen.

Das war gut gemeint, stimmt aber nicht ganz. "Wenn wir diesen Ort besuchen, hat das einen anderen Stellenwert, als wenn der Stuttgarter Stadtrat kommt", sagt Christian Stangl, er ist der Vorsitzende der CSU im Stadtrat. Dachau, der Name einer 43.000 Einwohner zählenden Stadt im Norden von München, steht weltweit für die Verbrechen des Nationalsozialismus.

Doch in Auschwitz machen an diesem Tag Anfang August nur ein paar japanische Touristen Fotos, als Oberbürgermeister Peter Bürgel (CSU) vor der rekonstruierten Hinrichtungsmauer einen Kranz niederlegt. Die Sonne brennt herab, 36 Grad Celsius, nirgendwo Schatten. Bürgel trägt einen schwarzen Anzug und Krawatte. Trotzdem verharren die Dachauer lange an diesem Ort zwischen Block 10 und 11. So ein Moment wäre vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen - jedenfalls zu Hause in Dachau.

Barbara Distel könnte viel darüber erzählen. Die frühere Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau kämpfte mehr als 30 Jahre lang für die Erinnerung - die meiste Zeit davon wurde sie angefeindet. Als Distel 2008 in den Ruhestand ging, ehrte die Stadt sie mit der goldenen Bürgermedaille. Ein Fortschritt, doch etwas von der Abwehr früherer Jahre war immer noch spürbar. In der Auschwitz-Reise sieht Distel "ganz sicherlich ein Zeichen des veränderten Umgangs der Lokalpolitik" mit der Geschichte ihrer Stadt. Noch 2012 war ein geplanter Besuch an vielen Bedenken von Stadträten gescheitert.

Diesmal hatte der Oberbürgermeister nicht lockergelassen, und mehr als die Hälfte des 40-köpfigen Stadtrats begleitet ihn schließlich. Es ist nicht so, dass die Lokalpolitiker den Auschwitz-Besuch ablehnten. Aber diffuse Ängste vor einem "Skandal" trieben sie um, einige fragten Bürgel sogar, wie sie sich für den Gedenkstättenbesuch anziehen sollen. Man will nichts falsch machen - weil die Stadtpolitik früherer Jahre doch so viel falsch gemacht hat.

Am 29. April 1945 befreiten Einheiten der 7. US-Armee das KZ, das 1933 drei Kilometer von der Altstadt entfernt errichtet worden war. Mehr als 206.000 Häftlinge aus ganz Europa litten in Dachau, mehr als 41.000 überlebten Terror und Zwangsarbeit im Stammlager und seinen 140 Außenlagern nicht. Städtische Behörden und vor allem Geschäftsleute arbeiteten intensiv mit der SS zusammen.

Beobachter der US-Armee waren sich sicher, dass die Dachauer die furchtbaren Verbrechen zumindest ahnten. Danach aber wollte niemand etwas gewusst haben. Dachau stellte sich selbst als Opfer der Nazis dar. Erst auf Druck von KZ-Überlebenden entstand 1965 eine Gedenkstätte - heute mit 800.000 Besuchern jährlich die meistbesuchte in Deutschland.

Der parteifreie Oberbürgermeister Lorenz Reitmeier, von 1966 bis 1996 im Amt, sorgte sich weniger um das Gedenken an die Opfer als um den Ruf Dachaus. Im April 1985 bedauerte er bei einer Gedenkfeier, dass das KZ das ganze Ansehen der einstigen Künstlerstadt zerstört habe. "In Dachau war es doch am schönsten", zitieren Honoratioren gern den Volksschriftsteller Ludwig Thoma, der Ende des 19. Jahrhunderts in Dachau lebte. Reitmeier ist mit dem Stadtrat nach Auschwitz gekommen, das ist ein großer Schritt. In einem Restaurant am Krakauer Hauptplatz redet er sich aber wieder in Rage: "Das ist vorbei, das interessiert in Dachau niemanden mehr."

Der heute 82-jährige Reitmeier war nicht der Einzige, der sich gegen die Erinnerung stemmte. 1948 wollte der bayerische Landtag auf dem ehemaligen KZ-Areal ein Gefängnis einrichten, ein "Arbeitslager für asoziale Elemente", wie es im Landtagsbeschluss hieß. Dann brauchte man jedoch die Baracken für 2000 Vertriebene. Landrat Heinrich Junker hätte 1955 die Krematorien abreißen lassen - doch dagegen erhob sich weltweit Protest.

In den Achtzigerjahren wollten Teile der CSU und einer Wählergruppierung verhindern, dass ein internationales Jugendgästehaus für Gedenkstättenbesucher gebaut würde. "Kampf bis zum letzten Blutstropfen" lautete die Losung. Der damalige Bürgermeister Georg Engelhard ließ im Bierzelt des Volksfestes gegen das Haus abstimmen. Das war 1986. Ein Jahr zuvor hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer auch im Ausland viel beachteten Rede dazu aufgefordert, die Vergangenheit anzunehmen. Dachau war dafür noch lange nicht bereit.

Gegen die Stadtpolitik entstand jedoch eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die zusammen mit Zeitzeugen den Boden für einen Wandel bereitete. 1998 wurde das Jugendgästehaus eröffnet. Auch die Bundeskanzlerin kommt am 20. August zu einem Wahlkampfauftritt nach Dachau, davor besichtigt sie auf Einladung des 93-jährigen Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer die KZ-Gedenkstätte.

Inzwischen wird die Geschichte in Dachau nicht mehr stur verdrängt. Das hat vor allem Oberbürgermeister Bürgel bewirkt. 2005 hielt er eine bemerkenswerte Rede im Dachauer Schloss und leitete damit die Wende ein. In der Gedenkstätte Auschwitz erinnert er sich: "Die Begegnung mit Holocaust-Überlebenden hat mich verändert." Bürgel fand den Weg, wie die Stadt mit ihrem schweren Erbe umgehen kann: eine aufgeklärte Heimatverbundenheit.

Zunächst reagierte selbst seine eigene Fraktion skeptisch auf die vielen Auslandsreisen ihres OB - nach Atlanta, zu den Gedenkfeiern für die Opfer des SS-Massakers in Oradour und immer wieder nach Israel. Bürgels größter Wunsch, eine israelische Partnerstadt, blieb ihm versagt. 2009 scheiterte eine geplante Vereinbarung mit Rosh HaAjin bei Tel Aviv am Protest von Holocaust-Überlebenden. Bürgel hat mittlerweile Verständnis dafür und verfolgt eine "Politik der kleinen Schritte". Im Mai startete die Kooperation zwischen Kliniken im israelischen Rechovot und in Dachau.

Um kleine Schritte geht es auch bei der Begegnung mit dem Bürgermeister von Auschwitz, Janusz Chwierut. Das Gespräch ist der zweite Termin auf dieser Reise. Doch auch dieses Gespräch hat nur einen informellen Charakter - bloß kein Aufsehen eben. Die beiden Bürgermeister wollten sich doch einmal treffen, da ihre Städte nun schon seit 25 Jahren einen Austausch von Künstlern und Berufsschülern unterhalten. Man entdeckt Gemeinsamkeiten. Auch die Bewohner von Auschwitz leiden darunter, dass der Name ihrer Stadt auf ewig mit unvorstellbaren Gräueltaten verbunden sein wird, die alles andere überschatten. Die Gedenkstätte hat eineinhalb Millionen Besucher im Jahr, doch wie in Dachau sucht nur ein Bruchteil von ihnen die Stadt auf.

Und so setzt auf der Reise ein Nachdenken über die Dachauer Befindlichkeiten ein und mündet in ein bemerkenswertes Bekenntnis: "Die CSU hat diese Entwicklung verzögert, das ist klar und unsere Verantwortung", sagt der CSU-Mann Christian Stangl in Krakau. Jetzt sind sie aber alle erst mal erleichtert, dass ihre Ängste unbegründet waren. Darüber vergessen sie fast, was sie vollbracht haben: eine großartige Geste.

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SZ vom 10.08.2013/fran
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