Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914:Schlafwandler und Selbstmitleid

Deutsche Infanteristen bei den Kämpfen um Lodz, 1914 Erster Weltkrieg

Deutsche Infanteristen 1914 bei den Kämpfen um Lodz

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Christopher Clarks Buch über die Julikrise von 1914 wird in Deutschland vielfach instrumentalisiert. Der Erfolg der "Schlafwandler" hierzulande sagt viel aus: über die Befindlichkeiten der Deutschen.

Von Andreas Wirsching

Der in Cambridge lehrende australische Historiker Christopher Clark war, als er sein neuestes Buch über die "Schlafwandler" veröffentlichte, kein Unbekannter in Deutschland.

Schon seine fulminante Geschichte Preußens erhielt hierzulande Aufmerksamkeit und großes Lob. 2010 wurde Clark für dieses Buch mit dem renommierten Preis des Historischen Kollegs ausgezeichnet. Auch seine kurz darauf folgende Biografie über Wilhelm II. nahm das deutsche Publikum wohlwollend auf.

Überraschend und erklärungsbedürftig

Die Rezeption und der Erfolg der "Schlafwandler" sind aber eine andere Hausnummer. Selten zuvor hat jedenfalls ein fast 900-seitiges, von einem Fachhistoriker verfasstes, quellengesättigtes und dicht geschriebenes Geschichtsbuch zu einem Spezialthema eine solch überwältigende Resonanz gefunden.

Dieses Phänomen ist - zumindest auf den ersten Blick - überraschend und erklärungsbedürftig. Ein Grund besteht darin, dass es sich um ein tiefschürfendes, gut lesbares Buch handelt, das gewichtige und dort, wo Clark in die Archive gegangen ist, zum Teil auch neue Einsichten hervorbringt.

Überdies behandelt Clark die Julikrise 1914 wie niemand vor ihm als europäische Krise. Das internationale System, seine Akteure und die zugrunde liegende Interessenstruktur schaut er sich gleichermaßen in Belgrad und Wien, in Paris und London, in Berlin und St. Petersburg an.

Mit großer Quellentiefe rekonstruiert er den Handlungsrahmen derjenigen, die über Krieg und Frieden entschieden, und demonstriert die Unübersichtlichkeit, mit der sie sich konfrontiert sahen. So entsteht das Bild eines diplomatischen Irrgartens, in dem sich die europäischen Monarchen, Staatsmänner und Botschafter verfingen und dem sie am Ende nur noch auf dem Wege des Krieges entfliehen konnten.

Aus dieser Sicht gewinnt auch der Titel des Buches eine gewisse Plausibilität, der ja suggeriert, es habe den Zeitgenossen an Bewusstsein und Erkenntnis gemangelt. Man kann zwar mit guten Gründen über dieses Bild streiten und auch die Adäquatheit des Titels infrage stellen. Aber nirgends konnte man bisher die Komplexität und die Kontingenz, die die Wahrnehmung der Zeitgenossen von 1914 prägten und ihre Handlungen bestimmten, so detailliert und so farbig nachlesen.

So weit handelt es sich also um ein wichtiges und spannendes Buch. Aber das erklärt noch nicht seinen Erfolg in Deutschland. Denn hier kommt etwas ganz anderes hinzu, das weitaus mehr über die Befindlichkeit der Deutschen aussagt als über den Gegenstand des Buches selbst. Offenkundig trifft das Buch einen Nerv deutschen Geschichtsbewusstseins.

Dessen Reflexe entsprechen zwar nicht dem öffentlich verhandelten Mainstream; subkutan aber besitzen sie eine nach wie vor beachtliche Bedeutung: Es ist das Empfinden, von der Geschichte im Allgemeinen und von den Europäern im Besonderen ungerecht behandelt und zu Unrecht angeklagt worden zu sein.

Äußerungen solchen Sentiments ziehen sich wie ein roter Faden durch die einschlägigen Kommentare und Blogs im Internet. Wie sie auch von frustrierten Zuhörern nach Vorträgen und Podiumsdiskussionen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts immer wieder vorgebracht werden: Endlich einmal müsse doch Schluss sein mit der "ewigen deutschen Schuld".

Im Strudel einer sehr deutschen Kriegsschulddebatte

So ist Clarks Buch in den Strudel einer sehr deutschen Kriegsschulddebatte gezogen worden, die den Kundigen staunen lässt: Fast scheint es so, als befänden wir uns ungefähr im Jahre 1964, auf dem Höhepunkt der Fischer-Kontroverse, als deutsche Kriegsziele, deutsche Schuld und deutsche Hauptverantwortung leidenschaftlich diskutiert wurden.

Dass es in den letzten fünfzig Jahren so etwas wie eine internationale Forschung gegeben hat, die alle diese Fragen intensiv studiert, analysiert und differenziert dargestellt hat, scheint in Vergessenheit geraten zu sein.

Das alte Trauma der Deutschen

Ob kalkuliertes Risiko, präventivkriegsartiges Kalkül, billigende Inkaufnahme, Autonomie militärischer Kriegsplanung, wechselseitiges Hochschaukeln der Nationalismen und Bündnissysteme oder schlichte Kontingenz: Alles dieses ist wieder und wieder eingehend diskutiert worden, und kein ernst zu nehmender Historiker würde heute eine platte These von der Alleinschuld des Deutschen Reiches formulieren. Das hatte übrigens auch Fritz Fischer nicht getan.

Je häufiger allerdings die Schuldfrage in der öffentlichen Diskussion um 1914 thematisiert wird, desto nachdenklicher wird man. Unter der Oberfläche scheint das alte Trauma der Deutschen fortzuleben, in Europa nicht nur alleine zu stehen, sondern von missgünstigen Nachbarn auch noch eingekreist zu werden. Das wiese dann auf eine besorgniserregende Parallele zwischen 1914 und 2014 hin.

Zwar sei die Frage, ob man nicht besser von Selbstauskreisung sprechen sollte, hier einmal dahin gestellt. Aber das Empfinden der Isolierung und Einkreisung erzeugte in Deutschland eine Haltung, die trotzig auf der eigenen Moralität beharrte und über Generationen hinweg den Eindruck befestigte, von den Kriegsgegnern fundamental ungerecht behandelt worden zu sein.

Damit verbauten sich die Deutschen selbst die Möglichkeit, ihre Niederlage von 1918 konstruktiv zu verarbeiten. Am Ende erschienen vielmehr Versailles und die Siegermächte des Ersten Weltkriegs als zumindest mitschuldig am Aufstieg Hitlers und an den Verheerungen des NS-Regimes - eine Auffassung, die die seriöse Forschung längst hinter sich gelassen hat.

Haben sich aber nicht alle diese Empfindungen nach mehrfachem Generationenwechsel und einer glücklichen Wiedervereinigung Deutschlands erledigt?

Clark hat bewiesen, dass dies nicht der Fall ist, und das ist die eigentliche Überraschung seines Buches: Tatsächlich ist die Sehnsucht nach einer historisch unbelasteten, gleichsam "unschuldigen", vielleicht bloß "normalen", aber doch national geprägten historischen Rolle der Deutschen nach wie vor weit verbreitet.

Rückkehr zum entlastenden Konsens

Wenn Fritz Fischer einst den entlastenden Konsens des "Wir sind alle hineingeschlittert" zerstörte und dafür den Hass der national gestimmten Öffentlichkeit und nicht weniger Fachkollegen auf sich zog, so bietet Christopher Clark den Deutschen mit seiner Darstellung der Julikrise die Rückkehr dieses Konsenses an.

Nicht dass Clark die Deutschen übermäßig schonte oder ihre Mitverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Abrede stellte. Aber die Frage der Schuld oder auch nur der Hauptverantwortung thematisiert er nicht, will sie nicht thematisieren, weil er sie für falsch gestellt hält.

Attraktives wissenschaftliches Attest

Das ist kritikwürdig, denn spätestens mit dem deutschen Angriff auf Belgien war die Schuldfrage in der Welt und geriet zur unausweichlichen historischen Kategorie des Ersten Weltkrieges.

Auch dringt Clark nicht in die Tiefe deutscher Strukturbelastungen ein. Die prekäre Verfassung des preußisch dominierten Bismarck-Reiches, die dem autonomen Handeln und Planen des Militärs Tür und Tor öffnete und der parlamentarischen Kontrolle entzog, die ebenso prekäre Gleichzeitigkeit von dynamischer Industrialisierung und rückständiger Sozialstruktur, eine problematische bürgerliche Deutungskultur, die die nationale Geschichte und die epochenspezifischen Konflikte in sozialdarwinistische und zum Teil auch schon rassistische Kategorien zwängte, maßlos überzogene Kriegsziele - alles dieses und vieles andere erwähnt Clark zwar, betrachtet es aber nicht als spezifisch für die deutsche Geschichte.

Gleiches, Ähnliches, zumindest Vergleichbares, so lautet seine Diagnose, habe es in der Geschichte aller anderen europäischen Großmächte ebenfalls gegeben. Der deutsche Leser kann sich also in der wissenschaftlich attestierten Gewissheit zurücklehnen, dass keinesfalls ein deutscher Sonderweg in den Weltkrieg geführt habe. Vielmehr glich der deutsche Weg dorthin eben demjenigen der anderen.

Warum aber erweist sich ein solches wissenschaftliches Attest für das deutsche Publikum gerade heute als so attraktiv? Man wird nicht fehlgehen, die Antwort in der gegenwärtigen, politisch und ökonomisch durchaus prekären Situation zu suchen.

Statusunsicherheit und Bedrohungsangst - die typischen Ingredienzien (klein-)bürgerlicher Mentalität im Kaiserreich - feiern irritierende Urständ in Deutschland. Die Euro-Krise hat es möglich gemacht.

Verbünden sich nicht scheinbar die europäischen Nachbarn, um Deutschland zu drangsalieren und womöglich seine Stärke - heute ist es natürlich die wirtschaftliche und finanzielle Stärke - zu brechen?

Der Wunsch, nicht auf der falschen Seite zu stehen

Erinnert die Situation möglicherweise nicht nur von Ferne an das, was man als missgünstige Einkreisung des Kaiserreiches durch die europäischen Nachbarn 100 Jahre zuvor in Erinnerung hat?

Da tut es gut, wenn ein australischer Historiker, der in Cambridge lehrt, den Deutschen erzählt, dass sie damals zumindest nicht auf der falschen Seite standen und an den Verheerungen des Großen Krieges keine irgendwie geartete besondere Schuld trugen.

Umso wohlfeiler ist es dann, Position gegen ein Europa zu beziehen, das als Bedrohung perhorresziert wird. Die entsprechende Argumentationskette lautet: Am Ausbruch des Ersten Weltkrieg trugen die Deutschen - wie ja nun endlich erwiesen ist - keine besondere Schuld und keine Hauptverantwortung. Das gibt den Deutschen heute das moralische Recht, sich gegen eine europäische Integration zu stemmen, von der man glaubt, sie laufe den deutschen Interessen zuwider.

Cora Stephan etwa freute sich, dass in Clarks Buch "die These von der Hauptverantwortlichkeit des Deutschen Reichs klaftertief begraben wird". Zusammen mit drei namhaften jüngeren Historikern wies sie wenig später in der Welt die Vorstellung zurück, das Kaiserreich habe wegen seiner "Machtgier" gewaltsam gestoppt werden müssen.

Diese Sicht sei zwar von Clark widerlegt worden, liege aber "jenem Europakonzept zugrunde, demzufolge Deutschland supranational 'eingebunden' werden müsse, damit es nicht erneut Unheil stifte".

Die sehr "deutsche Krankheit Selbstmitleid"

Demgegenüber sollten die Deutschen - gleichsam mit Clark in der Aktentasche - ihren "negativen Exzeptionalismus" endlich überwinden und erkennen, dass "ein Europa scheitert, das auf historischen Fiktionen beruht". Hier wird nun endgültig offensichtlich, welcher Subtext mit welchen Interessen der Clark-Diskussion eingeschrieben wird.

Deren tiefere Ironie liegt freilich darin, dass Clark die gewünschte Geschichte gar nicht erzählt. Vielmehr wird sein Buch, das auf tiefer greifende Strukturanalysen und damit letztlich auch auf eine historisch-analytische Erklärung des Ersten Weltkriegs verzichtet, in der deutschen Diskussion verkürzt und missverstanden.

Alle Züge der Instrumentalisierung

Clark will verstehen, was die Akteure von 1914 in den Krieg trieb. Tatsächlich arbeitet er die Komplexität des Staatensystems und seiner Krise heraus und macht die Kontingenz mancher Handlungsverläufe plastisch.

Ob sich dafür das große Publikum wirklich interessiert, scheint indes fraglich. Stattdessen trägt die deutsche Rezeption von Clarks Buch alle Züge der Instrumentalisierung: Es wird für etwas anderes in Anspruch genommen, als er gemeint hat. Daher wundert er sich selbst am meisten darüber, dass ihn hierzulande manche für besonders "deutschfreundlich" halten.

Womöglich war also alles nur ein großes Missverständnis. Ein solches Missverständnis legt aber schlaglichtartig die problematischen Brüche in der deutschen politischen Kultur offen.

Denn es erlaubt tiefe Einblicke in die Seelenlage jener Deutschen, die der wissenschaftlich-publizistische Mainstream abstößt, weil sie sich von ihm nach wie vor zu Unrecht beschuldigt und damit gekränkt fühlen.

Einmal mehr äußert sich darin die "deutsche Krankheit Selbstmitleid" (Alfred Grosser), und deshalb muss auch weiterhin von der schwierigen, durch Gewalt, Vernichtung und auch Schuld geprägten deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede sein.

Andreas Wirsching, Professor an der Ludwigs-Maximilians-Universität München, ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: