Erster Weltkrieg 1914:"Deutschland und Österreich sind hauptverantwortlich"

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Der Generalstabschef der österreichisch-ungarischen Armee Franz Conrad von Hötzendorff (re.), im Gespräch mit dem hochmütig-flatterhaften deutschen Kaiser Wilhelm II. Die Aufnahme entstand laut Bildbeschreibung 1915 "auf dem Kriegsschauplatz Balkan während der Kämpfe gegen Serbien". (Foto: Scherl / SZ Photo)

Der Kriegsausbruch 1914 wurde in Berlin und Wien geplant, sagt die deutsch-britische Historikerin Annika Mombauer - und kritisiert Schwächen in Christopher Clarks Bestseller "Die Schlafwandler".

Von Oliver Das Gupta

Annika Mombauer zählt zu den international besten Kennern der Julikrise von 1914, die im Ersten Weltkrieg mündete. Die deutsch-britische Historikerin ist Senior Lecturer an der Open University in Milton Keynes. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Die Julikrise - Europas Weg in den Ersten Weltkrieg" (C.H.Beck).

SZ: Frau Mombauer, war der Krieg nach dem Mord an Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo noch zu verhindern?

Annika Mombauer: Mit Sicherheit. Gleich nach dem Attentat stellten die Spitzen Österreich-Ungarns fest, dass man ohne die Rückendeckung der Deutschen leider keinen Krieg gegen Serbien führen könne. Die erfolgte dann Anfang Juli, als Kaiser Wilhelm II. Wien den berühmten "Blankoscheck" gab: die freie Hand für das weitere Vorgehen. Ohne diese wäre gar kein Krieg denkbar gewesen.

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Wollte Österreich-Ungarn unbedingt Krieg?

Wien wollte den lästigen serbischen Rivalen in einem kleinen Krieg loswerden. Deutschland war bereit, einen anderen, größeren Krieg gegen Frankreich und gegen Russland zu riskieren. Nach Kriegsbeginn war den Deutschen der kleine Krieg der Österreicher egal. In einem Telegramm vom 31. Juli 1914 teilte Wilhelm II. dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. sinngemäß mit: Priorität hat jetzt ein Sieg über Frankreich, deshalb müsse Wien seine Truppen erst mal nicht gegen Serbien, sondern gegen Russland marschieren lassen, um uns den Rücken freizuhalten. Die Verantwortung Deutschlands und Österreich-Ungarns am Krieg ist sehr groß.

Hat der Historiker Christopher Clark mit der Aussage recht, dass auch andere Großmächte die Eskalation im Sommer 1914 forciert haben?

Clark sagt nicht, dass die Deutschen unschuldig seien. Aber sein Buch "Die Schlafwandler" wird von vielen Deutschen so verstanden. Es ist gut, dass Clark zeigt, welche Entscheidungen damals in Russland, Frankreich und Serbien getroffen worden sind. Es gab auch dort ein paar "Bösewichte". Aber sie wirkten eben nicht zu Beginn der Julikrise, sondern erst später - als die Mittelmächte die Weichen für den Krieg bereits gestellt hatten.

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Sie widersprechen also Clarks These, wonach alle europäischen Mächte gleich viel Schuld am Kriegsausbruch tragen?

In der Hinsicht liegt Clark falsch. Mir wäre es lieber gewesen, die "Schlafwandler" wären 50 Seiten länger gewesen, um die verhängnisvolle Dynamik aufzuzeigen, die sich während der Julikrise in Deutschland und Österreich-Ungarn entwickelte. Aber viele der Dokumente, die belegen, was in Berlin und Wien passierte, kommen bei Clark leider zu kurz.

Was belegen diese Dokumente?

Wie die Entscheidungsträger in Wien und Berlin nach dem Attentat von Sarajevo die Eskalation der Julikrise mit voller Absicht provoziert haben. Diese Krise existierte, weil Wien Krieg gegen Serbien führen wollte und Berlin bereit war, volles Risiko einzugehen. Entsprechende Überlegungen sind schriftlich dokumentiert. Es existieren Beweise ohne Ende. Die deutsche Führung war bereit für den großen Krieg und wusste schon lange: Es muss eine Krise auf dem Balkan sein, die den europäischen Krieg auslöst - ansonsten wird Österreich-Ungarn nicht mitziehen.

Sabotierten in der zweiten Phase der Julikrise auch andere Staatsführungen den Frieden?

Das kann man so sagen. Nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien trugen Entscheidungen in den anderen Hauptstädten dazu bei, die Krise eskalieren zu lassen. Aber das ging nur nach den Weichenstellungen in Berlin und Wien. Deutschland und Österreich sind hauptverantwortlich für den Ersten Weltkrieg.

Drängte in Großbritanniens Führung jemand auf Krieg mit den Deutschen?

Nein, im Gegenteil: London wollte 1914 den Frieden retten. Großbritannien trägt keine Verantwortung an der Eskalation. London wollte den Status quo bewahren, das Mächtegleichgewicht in Europa - deshalb entschied es sich Anfang August für den Kriegseintritt. Aber es provozierte keine Krise und wollte keinen Krieg. Das hatte auch innenpolitische Gründe: Die Iren drängten auf Unabhängigkeit, die Suffragetten sorgten mit ihren Forderungen nach Wahlrechtsreform für innenpolitische Unruhe.

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Welche Rolle spielten Russland und Frankreich bei Kriegsausbruch?

Dort gab es 1914 in der Tat Kräfte, die wie die Staatsmänner in Berlin dachten: Sie gingen davon aus, dass der Krieg ohnehin unvermeidlich sei. Paris und Sankt Petersburg sahen es als gute Gelegenheit an, einander die Bündnispartnerschaft zu versichern und vor dem Krieg gegen Deutschland nicht zurückzuscheuen. Im Grunde genommen glaubten die Kontinentalmächte alle, der jeweils andere würde sie bedrohen.

Klingt nach einem Selbstläufer.

War es auch. Diese Regierungen waren paranoid. Wir müssen uns in die Köpfe dieser Männer versetzen: Die fühlten sich wirklich eingekreist und bedroht. Ob das zaristische Russland jemals Deutschland angegriffen hätte, wissen wir nicht. Was aber feststeht: Die Männer um Kaiser Wilhelm II. hatten Angst vor der russische Dampfwalze. Aber auch in Großbritannien und Frankreich fürchtete man sich vor der großen militärischen Übermacht Russlands. Man glaubte, es bald nicht mehr bändigen zu können.

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Warum fühlte sich die Reichsspitze von Feinden umzingelt?

Das lag vor allem an der aggressiven Außenpolitik der Regierungen des deutschen Kaisers. Nach seiner Thronbesteigung 1888 hat Wilhelm II. Bismarcks Bündnispolitik beendet, die auf eine diplomatische Absicherung Deutschlands und eine Isolierung Frankreichs abzielte. Wilhelm II. schuf eine Atmosphäre der Spannungen und Krisen in Europa. Krieg galt als erstrebenswert. Der Kaiser berief und beförderte Männer, die wie der Monarch leichtfertig von Krieg sprachen. Jeder wusste, was von ihm erwartet wurde und was zu tun ist. Wilhelms Personalpolitik und sein politischer Kurs liefen auf das hinaus, was 1914 passierte. Auch wenn der Kaiser während der Julikrise teils versöhnlich spricht, hat er doch die Weichen gestellt auf einen Kurs, der dann unaufhaltsam auf den Krieg hinsteuerte.

Wieso setzte Deutschland 1914 auf Krieg und nicht auf andere Mittel?

Einerseits hatte man das sichere Gefühl, Paris und Sankt Petersburg wollten früher oder später ohnehin Krieg. Dazu kam die Sorge, was der österreichische Bündnispartner wohl künftig macht: Bleibt er loyal? Bleibt er Großmacht oder erodiert er? Diese Spekulationen arbeiteten in den Köpfen der Militärs und Politiker im Sommer 1914. Deutschland und Österreich waren sich am Ende einig: Dass es für sie in diesem Moment besonders günstig war, Krieg zu führen. Auf der anderen Seite sahen das übrigens Frankreich und Russland ähnlich. Die Ermordung von Österreichs Thronfolger war aus Sicht der Kriegstreiber in Wien und Berlin die ideale Krise.

Wilhelm II. gab Österreich freie Hand gegen Serbien. Kurz vor Kriegsbeginn wollte er die Krise jedoch friedlich beilegen. Wie kam es dazu?

Als dem Kaiser die Reaktion der serbischen Regierung auf das österreichische Ultimatum vorgelegt wurde, in dem Belgrad den Wiener Forderungen weit entgegenkam, war er erleichtert und sagte: "Damit fällt jeder Kriegsgrund weg." Aber es war zu spät, wie er bald erkennen musste. Wilhelm wusste, dass man ihm nachsagte, ein Zauderer zu sein. Demonstrativ stellte der Kaiser dann auch fest: "Diesmal falle ich nicht um." Er sah sich nach wie vor als Oberbefehlshaber und sprach von "meinen Truppen". Kaiser Wilhelm II. trug eindeutig Mitschuld an der Entfesselung des Krieges, aber er wurde im Sommer 1914 auch Opfer seines von ihm gezüchteten Umfelds.

Wie meinen Sie das?

Der Kaiser versuchte, die Krise zu steuern - und wurde dann in einer entscheidenden Phase von seinen eigenen Leuten ausmanövriert. Man schickte ihn in den Urlaub, enthielt ihm Informationen vor oder zögerte, den Monarchen zu informieren. Sein Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und andere wie der Generalstabschef Helmuth von Moltke sorgten sich, dass der Kaiser im letzten Moment seine Entscheidung für den Krieg revidieren würde.

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Die deutsche Spitze glaubte an einen schnellen Sieg. Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung?

Die Reichsführung meinte im Sommer 1914, die beste Armee zu haben. Es gab eine große Selbstüberschätzung. Man glaubte, dass sich der deutsche Charakter auf dem Schlachtfeld durchsetzen würde. Generalstabschef Moltke sagte nach Kriegsausbruch, man sei den Franzosen zahlenmäßig zwar nicht überlegen, aber moralisch. Berlin rechnete allen Ernstes mit einem schnellen Sieg über Frankreich innerhalb von vier bis sechs Wochen. Auch deshalb gab es im Herbst eine Munitionskrise - man hatte nicht für einen langen Krieg geplant. In Großbritannien rechneten übrigens auch viele damit, dass spätestens Ende 1914 der Krieg vorbei wäre.

Der britische Historiker Niall Ferguson behauptet, das Vereinigte Königreich sei vor 100 Jahren in den "falschen Krieg" gezogen. Was antworten Sie ihm?

Der Hauptgrund für London lautete: Deutschland muss eingedämmt werden. Das Wilhelminische Deutschland machte seit Ende des 19. Jahrhunderts deutlich, dass es die imperiale Vormachtstellung Großbritanniens untergraben wollte. Deutschland wollte kein Juniorpartner sein. Im damaligen Selbstverständnis konnte man sich in London nicht zurücklehnen und Deutschland zur dominanten Macht auf dem Kontinent werden lassen. Das war nicht der falsche Krieg, sondern für Großbritannien ein Konflikt, aus dem es sich nicht heraushalten konnte.

Griff Deutschland tatsächlich nach der Weltmacht?

Darüber kann man lange streiten. Die Kriegsziele der Reichsführung sind für die Vorkriegszeit nicht gut belegt. Vom sogenannten Septemberprogramm, also nachdem der Krieg ausgebrochen war, wissen wir, dass man nach einem deutschen Sieg die dauerhafte Unterjochung weiter Teile Kontinentaleuropas plante. Aber während und vor der Julikrise scheint es eher Zukunftsangst gewesen zu sein, die die Verantwortlichen einen Krieg herbeiwünschen ließ.

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