Süddeutsche Zeitung

Auszubildende:Systemfalle statt Bildungschance

Die Zahl der Ausbildungsanfänger könnte in diesem Jahr auf einen historischen Tiefstand sinken, prognostiziert eine Studie. Und auf die raren Plätze haben es vermehrt Abiturienten abgesehen. Schwache Schüler landen leicht im Abseits.

Von Christian Füller

Tausende junge Erwachsene werden die Schule im Sommer mit der Allgemeinen Hochschulreife in der Tasche verlassen. Und erstaunlich viele davon werden damit kein Studium beginnen. Denn immer mehr Abiturientinnen und Abiturienten entscheiden sich dafür, eine Lehre zu machen: 2002 war es rechnerisch etwa jeder Fünfte, 2019 schon gut jeder Dritte eines Jahrgangs. Das zeigt die Studie "Kein Anschluss trotz Abschluss?! Benachteiligte Jugendliche am Übergang in Ausbildung" des Berliner Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (Fibs).

Gleichzeitig wird die Zahl der Azubis dieses Jahr erneut regelrecht einbrechen, prophezeit die Untersuchung, die der Süddeutschen Zeitung vorab vorliegt. Gab es 2019 noch 525 000 neue Lehrlinge, so waren es am Ende des ersten Corona-Jahres fast 60 000 weniger - und 2021 könnte sich sogar ein Rückgang auf bis zu 430 000 Lehrverträge ergeben. Es wäre ein historischer Tiefpunkt: So wenig Ausbildungen wurden zuletzt 1976 vermittelt.

Es wird in Zukunft also nicht nur deutlich weniger Lehrlinge geben, sondern vor allem weniger Lehrlinge ohne Abitur. Als möglichen Grund dafür nennen die Autoren Dieter Dohmen, Klaus Hurrelmann und Galiya Yelubayeva unter anderem steigende Anforderungen an die Azubis insgesamt. Sie verweisen aber auch darauf, dass neue Ausbildungsplätze vor allem in Berufen geschaffen werden, die eine höhere Qualifikation verlangen. In Bereichen mit geringeren Anforderungen wie beispielsweise dem Hotel- und Gaststättengewerbe werden hingegen Ausbildungsplätze abgebaut. Vermutet wird auch, dass gerade kleine Betriebe sich von niedrigeren Schulabschlüssen und schlechten Noten täuschen lassen, die nichts über die Kompetenzen und Potenziale junger Menschen aussagen, und so möglicherweise geeignete Bewerber ablehnt

Das Übergangssystem gilt unter Experten als "Sammelbecken für Schulverlierer"

Doch was passiert, wenn die Zahl der Ausbildungsverträge insgesamt sinkt, gleichzeitig aber immer mehr Abiturienten einen davon ergattern? In der Folge werde das Ausbildungsangebot für Realschüler und mehr noch für Hauptschüler und junge Leute ohne Schulabschluss immer enger, warnen die Autoren der Studie. Für diese werde das Risiko immer größer, im sogenannten Übergangssystem zu landen.

Dieses System aus mehreren einjährigen Bildungsangeboten soll junge Leute mit ungenügender Schulbildung dazu befähigen, eine Berufsausbildung zu machen. Experten kritisieren das Übergangssystem als sinnlose Warteschleife, Klaus Hurrelmann nennt es ein "Sammelbecken für Schulverlierer".

Dieter Dohmen, der Leiter des Fibs, hat verschiedene Szenarien durchgerechnet. Im ungünstigsten Fall, so schreibt er, "könnte das Übergangssystem in wenigen Jahren sogar größer werden als das duale Ausbildungssystem und eine Größenordnung erreichen wie Mitte der 2000er-Jahre." Damals waren schon einmal Hunderttausende junge Leute in dem System gefangen. Denn berufsqualifizierende Abschlüsse und damit Übergänge in den Arbeitsmarkt bietet das System mit seinen zahlreichen Maßnahmen gerade nicht. Sie sind schlicht nicht vorgesehen.

Während die Bildungsrepublik ihr Qualifikationssystem nach oben fährt und immer mehr Abiturienten und Studierende produziert, kommt ein zunehmender Teil der Jugendlichen nicht mehr mit. "Dem Schulsystem gelingt es nicht, diesen Jugendlichen zur Entfaltung ihrer Potenziale zu verhelfen", sagt Dohmen. Sie sind geparkt in einer Warteschleife mit der Hoffnung, im nächsten oder übernächsten Jahr vielleicht doch noch eine Lehrstelle zu ergattern. Eine Hoffnung, die sich oft nicht erfüllt.

Betriebe klagen über Azubi-Mangel - und zahllose Jugendliche finden keinen Ausbildungsplatz

Insbesondere Jugendliche, die aus den unteren sozialen Schichten stammen, haben nach wie vor äußerst schlechte Voraussetzungen für den Übergang in eine berufliche Ausbildung und eine Erwerbstätigkeit, betont die Fibs-Studie. Eine Betreuerin, die in Sachsen-Anhalt Schüler im Berufsvorbereitungsjahr - einem Teil des Übergangssystems - begleitet, berichtet, dass ihre Schützlinge oft nur schwer zum Lernen zu bewegen sind. Die jungen Leute kämen häufig aus extrem belasteten Familien, gingen selten zur Schule und hätten oft Probleme mit Drogen. "Mir hat gerade eine junge Frau erzählt, dass das Beste in ihrem Leben der Entzug von Crystal Meth war. Da war sie 17", sagt die Betreuerin, die anonym bleiben will, um ihre Klientel zu schützen.

Sie schätzt, dass die Hälfte ihrer Schüler den Hauptschulabschluss wieder nicht schaffen wird. Die meisten würden es dann wohl noch einmal versuchen, coronabedingte Ausnahmeregelungen erleichtern solche Versuche. Trotzdem fürchtet sie, dass einige erleben werden, was während der hohen Arbeitslosigkeit in den 70er- und 80er-Jahren schon einmal ein Massenphänomen war: sich viele Jahre, oft ein Leben lang als Hilfs- oder Gelegenheitsarbeiter durchschlagen zu müssen.

Klaus Hurrelmann, der außerdem langjähriger Leiter der Shell-Jugendstudie ist, sagt: "Wenn das Übergangssystem seinen Namen verdienen würde, sähe die Welt ganz anders aus. Aber die zwölf oder 13 verschiedenen Maßnahmen, die dazu gehören, sind eine Fehlkonstruktion." Matthias Anbuhl, Abteilungsleiter Bildungspolitik im DGB-Bundesvorstand, kann ebenfalls nichts Gutes an der Entwicklung entdecken: "Es ist Gift für unsere Gesellschaft, wenn Betriebe über einen vermeintlichen Azubi-Mangel klagen - und zugleich zahllose Jugendliche keinen Ausbildungsplatz finden."

Schon 2019 habe es in Deutschland mehr als 1,3 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung gegeben, so Anbuhl. Der Gewerkschafter warnt vor der Gefahr, "dass sich Jugendliche mit schlechten Startchancen von den Parteien nicht mehr gesehen und gehört fühlen" und sich von der Gesellschaft abwenden.

Corona verschärft die Probleme vieler Auszubildenden noch

Dass der Lehrling, der später als Geselle und womöglich Facharbeiter oder Meister Karriere macht, immer seltener wird, wird nicht nur vom Übergangssystem befördert. Auch bei jungen Menschen, die es in die Ausbildung schaffen, steht nicht alles zum Besten. Auf Nachfrage bei "Dr. Azubi", dem Sorgenchat der DGB-Jugend, erfährt man, dass viele Auszubildende über mangelnde Rechte in ihrem Betrieb klagen.

Ein generelles Problem sind fehlende Lernzeiten, durch Corona hat sich das noch verschärft. In den Phasen von Berufsschulschließungen fehlte Azubis laut DGB-Jugend noch häufiger als sonst die Zeit zum Abarbeiten des Stoffs - weil Lehrherren die Lücke ausnutzten und ausbildungsferne Arbeiten verrichten ließen. Für die Schulen wiederum bedeuten Schließungen, dass sie ihre Schüler schwerer erreichen, um sie bei solchen Problemen zu unterstützen. "Meine Beratungsgespräche sind 2019 um die Hälfte zurückgegangen", sagt Mario Stephan, Sozialarbeiter an einem Berufsschulzentrum im sächsischen Sedlitz.

Zu dem aufstrebenden Qualifikationssystem, das den Zugang für Nichtabiturienten zur klassischen dualen Ausbildung bedroht, zählt auch das duale Studium. Die Kombination aus Studium und Ausbildung im Betrieb boomt. 1600 solcher Studiengänge gibt es schon, mehr als 100 000 junge Leute sind dort eingeschrieben. Sie tauchen in der Statistik sowohl bei den Studierenden als auch bei den Azubis auf. Das Gute: Hier werden hochqualifizierte Ausbildungsgänge angeboten. Das Problem: Für Hauptschüler sind sie praktisch nicht und für Realschüler nur sehr schwer erreichbar.

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