Süddeutsche Zeitung

Ausbeutung durch UN-Blauhelme:Wenn eine Frau so viel kostet wie eine Flasche Wasser

Lesezeit: 4 min

Von Karin Janker

Ab einem Dollar kostet eine Frau für einen Blauhelmsoldaten auf Friedensmission. So viel wie eine Flasche Wasser. Sex gegen Nahrungsmittel oder Medikamente - bei einem solchen Tausch geht es für die Frauen fast immer ums Überleben. Die pure Not zwingt sie in diese Form der Prostitution. Und es gibt Männer, die diese Not ausnutzen und Frauen und Kinder sexuell ausbeuten. Männer, die von der Weltgemeinschaft in diese Länder gesandt wurden, um den Frieden zu sichern und die Bevölkerung zu schützen. Ein aktueller UN-Bericht, der in diesen Tagen veröffentlicht wurde, zeigt, dass UN-Mitarbeiter in Ländern wie Haiti, Sierra Leone und der Demokratischen Republik Kongo Frauen und Minderjährige zum Sex genötigt haben.

Auch wenn man es verdrängt haben mag: Dass es sexuellen Missbrauch durch Blauhelme gab, ist nicht neu. Schon Generalsekretär Kofi Annan hatte das Problem vor mehr als zehn Jahren zum Thema gemacht und versprochen, dagegen vorzugehen. Trotzdem sickern bis heute immer wieder Berichte über einzelne Fälle in die Öffentlichkeit, wie zuletzt aus den Einsatzländern Haiti und Zentralafrikanische Republik.

Neu ist allerdings das Ausmaß der sexuellen Ausbeutung durch die Truppen, die immerhin 1988 den Friedensnobelpreis erhielten. Der aktuelle UN-Bericht spricht von einer enormen Dunkelziffer. Im Zentrum der internen Untersuchungen stehen Fälle, in denen die Opfer, meist Frauen und Mädchen aus den Einsatzländern, sexuellen Handlungen zugestimmt haben, um an Nahrungsmittel und Medikamente zu kommen. Allein für Haiti dokumentiert der Bericht die Aussagen von mehr als 230 Frauen. Sie erzählen, wie sie aus Armut und Hunger zu Prostituierten wurden - und wie Soldaten der UN-Friedenstruppen sie dazu machten.

Besonders dramatisch an den dokumentierten Übergriffen: Ein Drittel von ihnen wurde an Minderjährigen verübt. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Soldaten aus Frankreich, Tschad und Äquatorialguinea mindestens zehn Kinder in der Zentralafrikanischen Republik sexuell missbraucht haben sollen. Die Diskrepanz zwischen Auftrag und den Anschuldigungen ist verheerend: Die Soldaten sollten unter UN-Mandat Zivilisten beschützen. Sie haben aber offenbar Kinder zwischen neun und 13 Jahren gegen Essen oder Geld zum Sex gezwungen. Die Vereinten Nationen sollen schon früh von den Vorwürfen erfahren, aber keine angemessene Reaktion eingeleitet haben.

Ein Teil des Problems: Wenige Frauen auf Friedensmissionen

Solche Nachrichten passen schlecht zu den Zahlen, die Generalsekretär Ban Ki Moon zuletzt verkündete: In seinem jüngsten Bericht über das Jahr 2014 ist von 51 gemeldeten Beschuldigungen von sexuellem Missbrauch und Ausbeutung durch Mitglieder von Friedensmissionen die Rede. 2013 lag die Zahl noch bei 66 Fällen. Ein Rückgang also. Womöglich ein Erfolg für die bereits 2003 vom damaligen Generalsekretär Kofi Annan ausgerufene "Null-Toleranz-Politik" gegenüber sexueller Ausbeutung?

Nein. Der aktuelle Bericht widerspricht den bisherigen Statistiken der UN, die einen steten Rückgang der Missbrauchsfälle auf Blauhelmmissionen verzeichnen, deutlich. Ban Ki Moon hatte die interne Untersuchungskommission selbst beauftragt, der Generalsekretär ist sich des Problems offenbar bewusst. Der unter Annan erlassene Verhaltenskodex für alle UN-Mitarbeiter scheint keineswegs befolgt zu werden. Dabei geht es nicht nur um ein paar schwarze Schafe unter den Blauhelmen. Das Problem ist offenbar struktureller Natur. Der Anteil von Frauen auf den Friedensmissionen ist beispielsweise verschwindend gering - genau das könnte Teil des Problems sein. Denn viele Experten machen die maskulinen Strukturen im Militär für die sexuelle Ausbeutung Einheimischer mitverantwortlich.

Monika Hauser, Gründerin der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale, die Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten unterstützt, beschreibt die Situation vor Ort so: "Militärstrukturen per se sind gewaltbegünstigend. Zudem sind unter den Soldaten oft Männer mit wenig stabiler Psyche, die sich auch aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit für die Mission gemeldet haben. Die fühlen sich dann vor Ort wie die hohen Herren in UN-Uniform, die sich für eine Flasche Wasser eine 15-Jährige kaufen können." Das frauenverachtende Verhalten in den Einsatzländern entspringe auch dem heterosexuellen Gruppendruck, der militärische Strukturen häufig präge, sagt Hauser.

Der britische Genderforscher Paul Higate, der an der Universität Bristol Maskulinität und männliche Rollenbilder im Militär erforscht, gibt zu bedenken, dass oft Struktur und Individuum zusammenwirkten: "Einerseits sind die Soldaten in den Regionen in einer deutlichen Machtposition, die sich leicht ausnutzen lässt. Andererseits beobachten wir eine Verschiebung moralischer Werte bei manchen Soldaten, die auch damit zusammenhängt, dass Missbrauchsfälle so gut wie nie sanktioniert werden." Higate sprach während seiner Forschungsarbeiten mit Blauhelmsoldaten - auch mit solchen, die Sex mit Frauen vor Ort hatten. Einvernehmlich, wie sie versicherten. Aber Higate kennt auch Geschichten von Frauen und Mädchen, die von UN-Mitarbeitern vergewaltigt wurden.

Sex gegen Essen, Sex gegen ein Handy, Sex gegen Baby-Artikel - für die Frauen ist dieser Tauschhandel demütigend und entwürdigend. Neben den psychischen Folgen drohen ihnen soziale Ausgrenzung und körperliche Risiken. Nicht selten stecken die Soldaten sie mit Geschlechtskrankheiten oder HIV an. "Aber die Frauen haben oft keine andere Überlebenschance, als sich zu prostituieren", sagt Hauser von Medica Mondiale.

Ihre Organisation fordert deshalb statt einer fadenscheinigen Rhetorik von "Null Toleranz" konkrete Maßnahmen von der UN: "Das Mindeste wäre es, die Menschen vor Ort mit ausreichend Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen, damit sich die Frauen gar nicht erst zur Prostitution gezwungen sehen." Außerdem wären klare Regularien für die Strafverfolgung von Missbrauchsfälle notwendig, sowie eine stärkere Beobachtung der Soldaten vor Ort und ein Beschwerdesystem, das die Opfer ernst nimmt.

Vaterschaftstests sollen Unterhaltsansprüche klären

Tatsächlich werden bisher die wenigsten Täter bestraft. Mitarbeiter, denen sexueller Missbrauch nachgewiesen wurde, können zwar von der UN entlassen werden. Aber für die Strafverfolgung sind die Mitgliedsstaaten zuständig und die zeigen bislang wenig Interesse daran, Soldaten, die sie zuerst für Missionen in Entwicklungsländern angeworben haben, hinterher vor Gericht zu stellen. In den Einsatzländern ist eine Strafverfolgung durch die Immunität, die Blauhelmsoldaten genießen, nicht möglich.

Da es immer wieder vorkommt, dass Blauhelmsoldaten in ihrem Einsatzland Kinder zeugen und diese nach ihrem Abzug dort zurücklassen, bieten die Vereinten Nationen Mitgliedsstaaten seit einigen Monaten DNA-Tests an, um Unterhaltsansprüche zu klären. Doch selbst dieser Schritt ist heikel: Länder, die Blauhelme stellen, sind nicht begeistert über ein Verfahren, das einzelnen Einsatzkräften nicht nur eine Vaterschaft nachweisen könnte, sondern auch einen Rechtsbruch. Bei den zwölf Vaterschaftsklagen im vergangenen Jahr ging es in vier Fällen auch um mutmaßlichen sexuellen Missbrauch von Minderjährigen.

Dass hier Männer, die von Steuergeldern bezahlt werden, um Hilfe zu leisten, Unrecht tun, treibt die Initiatoren der Kampagne "Code Blue" um. Ins Leben gerufen von der Organisation "Aids-free World" setzt sich die Kampagne auf politischem Wege dafür ein, dass Opfern geholfen wird und Täter sowie diejenigen, die dieTaten decken, vor ein Gericht gebracht werden. Eine zentrale Forderung der Organisatoren: Die Immunität der UN-Mitarbeiter vor Ort müsse abgeschafft und die UN-interne Bürokratie so umstrukturiert werden, dass Straftaten nicht länger so einfach vertuscht werden können.

Genderforscher Higate plädiert ebenfalls dafür, Straftaten unmittelbar zu sanktionieren. Dies müsse bereits auf der Ebene der Vorgesetzten im Einsatzland geschehen. Das grundsätzliche Problem ist allerdings, dass Frauen in einigen Ländern der Welt so arm und marginalisiert sind, dass Männer in Uniform sich ihrer im Tausch gegen eine Flasche Wasser bemächtigen können.

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