"Augmented Reality":Ein Monster-Markt

Nintendos Erfolg kommt überraschend - aber eigentlich liegt er nahe: Die japanische Firma hat bei Spielen, die eine Verbindung zwischen virtueller und realer Welt herstellen, praktisch keine Konkurrenz zu befürchten.

Von Johannes Boie

Dass der Aktienkurs von Nintendo vor zehn Tagen noch bei 118 Euro stand und sich derzeit bei 190 Euro einpendelt, ist bemerkenswert. In der Logik des Netzes ist allerdings die Tatsache, dass in den vergangenen Tagen zeitweise mehr Nutzer mit Google nach "Pokémon Go" als nach "Porn" gesucht haben, ein noch deutlicheres Anzeichen dafür, dass die kleinen virtuellen Wesen in ihrer jüngsten Inkarnation einen der größten digitalen Trends aller Zeiten begründen. Das Spiel hat mittlerweile mehr aktive Nutzer als der Kurznachrichtendienst Twitter. Das ist eine Überraschung. Und dann auch wieder keine.

Die letzten großen Erfolge der Firma liegen fünf bis zehn Jahre zurück

Eine Überraschung deshalb, weil in den vergangenen Jahren die großen Schlachten auf dem Spiele-Markt im Hardware-Segment geschlagen wurden. Microsofts Spielekonsole X-Box, Sonys Playstation und die Wii von Nintendo versuchen, möglichst viele Nutzer an sich zu binden, in Deutschland ist Sony am erfolgreichsten. Weltweit geht es um einen Markt für zwei Millionen Smartphone-Nutzer, davon spielen rund zwei Drittel regelmäßig auf ihrem Handy. Prognosen zufolge sollen sie dieses Jahr etwa 33 Milliarden Euro für sogenannte mobile Spiele ausgeben. Auf dem Markt für PC-Spieler kämpfen die Hersteller von Grafikkarten um Marktanteile, auch deshalb, weil die jüngste Innovation - Brillen für künstliche Realität - an diese Bauteile hohe Ansprüche stellen. In diesem Kampf hatte Nintendo zuletzt schlecht ausgesehen. Die Strategie, die erfolgreichen eigenen Figuren wie den verrückten Klempner Mario ("Super Mario") nur auf eigener Hardware antreten zu lassen, erwies sich als Fehler. Die Konsolen Wii fürs Wohnzimmer und Nintendo DS für die Hand hatten zwar Erfolg, aber der liegt schon fünf bis zehn Jahre zurück. Der Schwenk auf fremde Geräte, in diesem Fall Smartphones, war also weniger überraschend. Dass Nintendo nun ein komplettes Marktsegment an sich reißt, nämlich das für Spiele in Augmented Reality (AR), ist auch weniger erstaunlich, als es einige Analysten nun beschreiben. Der Fachbegriff AR steht für erweiterte Realität, also die Verbindung aus virtuellen Pokémon und der realen Welt, die der Spieler durchwandern muss, um die kleinen Monster zu finden. Nintendos Vorteil ist, dass es in diesem Marktsegment bislang praktisch keine Konkurrenz gibt - das Unternehmen hat, wenn man ein paar wenig relevante Vorläufer ignoriert - gemeinsam mit den Programmierern der Softwareschmiede Niantic etwas Neues geschaffen. Vergleicht man ein Computerspiel mit einem Buch, dann wäre Niantic der Autor und Nintendo der Verlag, im Spielegeschäft spricht man von "Publishern". Im Fall von Pokémon Go ist noch eine dritte Firma beteiligt, die sinnigerweise "The Pokémon Company" heißt. Sie hält die Rechte an den Figuren und gehört wiederum teilweise Nintendo.

Die drei Firmen teilen sich die Einnahmen. Zum Erfolg trägt auch bei, dass Pokémon Go kein Geld kostet. Das Spiel an sich kann jeder, der ein Handy hat, gratis aus dem App-Store laden. Kosten entstehen den Spielern erst im Spiel, indem sie zusätzliche Inhalte gegen Geld erwerben können. Dieses Prinzip - "free to play" genannt - ist unter den Herstellern und Publishern äußerst beliebt, weil sich das kostenlose Spiel zunächst verbreitet, dann aber fortlaufend Umsatz generiert. Wie nachhaltig der Erfolg ist, bleibt trotz des Hypes offen. Ein Hype kann auch schnell wieder vorbei sein, mit der Folge, dass das Spiel auf den Smartphones der Nutzer neben Hunderten anderer ungenutzter Apps vor sich hin vegetiert. Eines werden die kleinen Monster allerdings für immer geschafft haben: das Genre der Augmented-Reality-Spiele für die Masse begründet zu haben.

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