Aufstand in Libyen:Insel im Hexenkessel

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Die libysche Stadt Bengasi ist frei, die Bürger trauen sich Dinge, die eben noch unvorstellbar waren: Komiker machen sich über den "Bruder Führer" lustig, Gaddafis Verliese werden Freizeitziele für revolutionäre Ausflügler. Aber wie lange?

Tomas Avenarius, Bengasi

Der Bruder Führer reißt die Arme hoch, eifert mit erhobenem Zeigefinger. "Warum? Warum? Warum? Vorwärts in die Zukunft! Immer nach vorn!" Das Gerede und Geschrei des Mannes mit dem wirren Haar und dem weiten, goldbestickten Umhang ist unverständlich, aber auf der Promenade von Bengasi versteht ihn jeder. Der Irre auf dem Autodach soll der Mann sein, über den sie 42 Jahre lang keinen Witz machen konnten, ohne Freiheit oder Leben zu riskieren: Muammar al-Gaddafi.

Ehemalige Offiziere der Armee von Gaddafi schulen Zivilisten in Bengasi im Gebrauch von Waffen. Die neue Regierung der freien Stadt, die für die öffentliche Ordnung sorgt, gibt sich allerdings optimistisch, die Waffen zumindest dort nicht mehr einsetzen zu müssen. Gaddafis Herrschaft sei nur noch eine Sache von Tagen, heißt es bei ihnen. (Foto: REUTERS)

Für Komiker war der Staatschef 42 Jahre lang das strengste aller Tabus im Libyen des "Bruder Führers". Jetzt ist der Gaddafi-Imitator die Attraktion auf der Uferstraße. "Braucht ihr Geld? Gut, ich zahle jedem 1000 Dinar!" Die Menschen lachen, johlen, werfen mit Papierkugeln nach dem Schauspieler: "Der macht den Irren nach wie echt", sagt einer. "Jeder Satz, jede Handbewegung - genauso spricht und zappelt der Hundesohn."

In Bengasi verwandelt sich die libysche Revolution: Nach den tagelangen Straßenschlachten und Schießereien, den Hunderten Verletzten in den Krankenhäusern und den fast 300 frischen Gräbern auf den Friedhöfen beginnt das Happening. So wie zuvor bei den Aufständen in Tunesien, Bahrain und in Ägypten. Nur: in Libyen ist der Ausgang nicht gesichert.

Noch hält sich Gaddafi im Westen des Landes. Noch kontrolliert er die Hauptstadt Tripolis. Noch weiß keiner, ob der Diktator zurückkommt, ob seine Milizen aus dem 800 Kilometer entfernten Tripolis versuchen werden, den "befreiten Osten" und die zweitgrößte Stadt des Landes zurückzuerobern. Dann wird es ein Blutbad geben auf der Promenade, wird Gaddafi Rache nehmen in Bengasi, wo die libysche Revolte am 15. Februar begonnen hatte.

Steinzeitmensch und Kettenhund

Wer wissen will, was das Gaddafi-Regime bedeutete und noch immer bedeutet, muss die Katiba aufsuchen. Die riesige Kaserne mitten in Bengasi war Standort der Gaddafi-Milizen und Residenz des Staatschefs: Wenn der "Bruder Führer" ein- oder zweimal den Weg fand in die Hafenstadt, versteckte er sich zwischen seinen Söldnern und Milizionären. Jetzt ist sie gestürmt, ausgebrannt, geplündert. Die Mauern sind mit Graffiti und Karikaturen besprüht: Der Staatschef als Steinzeitmensch, neben sich den einen Sohn als debilen Säugling, den anderen als Kettenhund mit Stachelhalsband. Die jahrzehntelang als Ort des Schreckens gefürchtete Katiba wird Leinwand für Sprayer und Ausflugsziel.

Die Kaserne ist eine Trutzburg, mit hohen Mauern und Stahltoren unterteilt auch im Inneren, mit Bunkern und Geheimgängen unterkellert. Gaddafi traut keinem, auch nicht den eigenen Leuten. Wer als Gegner des Führers in der Katiba landete, war offenbar so gut wie tot. Auf einem freien Platz im Inneren graben Dutzende in der Dunkelheit die Erde auf. Sie haben unterirdische Verliese gefunden, etwa drei mal zwei Meter groß und zwei Meter hoch. Eine winzige Luke führt durch das Erdreich ins Innere, ein dünnes Rohr sorgt für spärliche Luft. In einer der gemauerten Zellen hatten sie ein Dutzend Menschen gefunden. Es waren Deserteure, die nicht auf das Volk schießen wollten. Drei waren bereits tot.

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Gaddafis Wohnbereich lag im Innersten: Das Haus ist einem Beduinenzelt nachempfunden. Wüstenromantik in Stahlbeton, ausgebrannt bis auf die Stahlgerippe von Betten, Sesseln und Lampen. In einem der hinteren Zimmer finden sich die zerschlagenen Reste der Möbel, in zartem Rosa. "Das ist das Schlafzimmer von Gaddafi", sagt einer der revolutionären Ausflügler. "Hier hatte er Sex mit zehn Frauen."

Das mag sein. Aber die Reste der rosafarbenen Möbel erinnern eher an ein Kleinkindzimmer denn an das Boudoir eines Lustgreises. Die Welt weiß wenig über das Privatleben des 68-Jährigen: Außer den Wikileaks-Berichten über die angebliche Affäre mit seiner vollbusigen Krankenschwester aus der Ukraine bleibt der private Gaddafi auch nach dem Gang durch die Ruinen blass.

Was mehr über ihn sagt, sind die Waffenlager. Das Arsenal der Milizen in der Katiba ist eine riesige unterirdische Garage. Stahltore am Eingang, gut ein Dutzend saalgroßer Kammern innen. Die Kellerräume sind übersät mit aufgebrochenen Waffen- und Munitionskisten, beschriftet in Englisch, Arabisch, Kyrillisch. Bevor das Zeughaus von den Demonstranten geplündert wurde, enthielt es Schießgerät für eine kleine Armee: Sturmgewehre, Panzerfäuste, schwere Maschinengewehre, Granaten, Mörser. Jede einzelne der aufgerissenen Munitionskisten aus Blech fasst 700 Schuss. Sie sind nun alle leer und bei etwa 250 wird das Zählen der schwarzbrotgroßen Behälter eintönig: Es sind zu viele. All diese Waffen und Patronen sind nun in Bengasi unterwegs.

"Ja, die Waffen machen uns große Sorgen", sagt Hitam al-Gheriani. "Aber die jungen Leute sind großartig. Viele von ihnen bringen die Gewehre zurück, die sie aus der Katiba mitgenommen haben." Das ist schwer zu glauben, denn draußen vor dem Gericht wird immer wieder in die Luft geschossen, vor Freude, nicht mit Platzpatronen. Das Gerichtsgebäude ist der Sitz der neuen, freien Stadtverwaltung von Bengasi.

"Gaddafi ist am Ende"

Unter Führung der Rechtsanwälte haben die Revolutionäre ein Bürgerkomitee gebildet, das die öffentliche Ordnung garantieren soll. Al-Gheriani sagt: "Unser Hauptanliegen ist es, die Versorgung zu gewährleisten." Um die Sicherheit sorgt sich der Psychologe und Geschäftsmann nicht: "Gaddafi ist am Ende. Das Ganze dauert nur noch wenige Tage."

Gheriani und sein Bruder Mustafa, ein meist in den USA lebender Geschäftsmann, arbeiten als "Freiwillige" in der neuen Regierung. Wer sie hört mit ihrem amerikanischen Akzent und ihrem Lob für die Jugend und die Forderung nach Freiheit, der fragt sich in den ruhigen Momenten in diesem Hexenkessel, ob die arabischen Revolutionen wirklich so spontan entstanden sind, wie alle Revolutionäre betonen.

Das Schema ist immer gleich - ob in Ägypten, Bahrain oder Libyen. Verabredungen über das Internet, Proteste und Demonstrationen, geführt von jungen Leuten, die sich brutaler Polizeigewalt aussetzen, bis das Volk sich anschließt. Keine politischen Forderungen außer Freiheit und dem Aus für die Diktatoren: Ein Dominoeffekt, der die arabische Despotenwelt ins Wanken gebracht hat wie ein Erdbeben. Sollte es doch eine von außen steuernde Hand geben beim Aufruhr in der arabischen Welt, dann bleibt sie auch in Bengasi verborgen.

© SZ vom 28.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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