Aufstieg der Piratenpartei:Angriff auf die grünen Großeltern

Die Piraten treffen das Lebensgefühl einer ganzen Generation - ein harter Schlag für das Selbstverständnis der Grünen. Die Aufsteiger wollen zeigen, dass sie nicht nur reden, sondern auch tatsächlich Politik machen können. Die Grünen müssen ihr Profil als moderne linke Partei wieder schärfen.

Michael Bauchmüller und Hannah Beitzer, Berlin

Soll keiner sagen, die Piraten würden sich im Berliner Abgeordnetenhaus nicht auskennen. Schon vor einem Jahr haben sie dort in Raum 109 von einem freundlichen Abgeordneten eine kleine Einführung in die Parlamentsarbeit bekommen - ausgerechnet von einem Grünen. Damals galten die Piraten noch als interessante Splitterpartei, aber nicht als Konkurrenz. Und jetzt? Ein Jahr später ziehen sie nun in genau den Raum ein, in dem ihnen der Grüne Benedikt Lux einst das Parlament erklärte. Zumindest fürs Erste, bis andere Räume für sie frei werden.

Für die Grünen waren die Piraten lange Zeit Geschwister im Geiste ohne viel Aussicht auf Erfolg. Bei den jungen, "netzaffinen" Wählern wähnte man sich gut aufgestellt. Das ist jetzt anders, mit neun Prozent Piraten-Wählern in Berlin ist die Partei plötzlich eine Größe.

Als am Wahlabend Renate Künast vor den Fernsehkameras die Netzaffinität der Grünen rühmte, brachen die Piraten auf der Wahlparty im Kreuzberger Szeneclub "Ritter Butzke" in schallendes Gelächter aus. "Ihr seid alt, ihr seid alt", riefen die jugendlichen Wähler. Fast wirkt es so, als griffen die Enkel der ersten Grünen-Wähler nun die Grünen an. "Die haben es als allererste geschafft, uns den Nimbus des Neuen, Alternativen wegzunehmen", sagt einer aus dem grünen Parteirat. Das tut weh.

Das Gremium hatte schon am Montagvormittag mit der Wahlanalyse begonnen, und zwar nicht zimperlich. Warum so wenig Inhalte im Berliner Wahlkampf rübergekommen seien, wollten einige wissen; warum die Wahlplakate so viel schlechter waren als die der mager bemittelten Piratenpartei; warum Spitzenkandidatin Renate Künast sich so lange eine Koalition mit der CDU offenhielt - und damit wohl auch manchen potentiellen Wähler zu den Piraten trieb.

Das Wahlergebnis der Grünen mag ja viel besser sein als bei der letzten Berlin-Wahl. Aber es liegt eben immer noch weit unter dem, was Umfragen der Bundespartei derzeit attestieren. Normalerweise ist das in Berlin genau umgekehrt.

Nicht nur Internetthemen

Doch allein an die 17 000 Stimmen, so errechnen die Institute jetzt, verloren die Grünen hier an die Piratenpartei. Die Piraten hatten in Berlin nicht nur internetbezogene Themen in ihr Wahlprogramm aufgenommen, sondern auch einige Punkte, die bei linksorientiertem Publikum gut ankommen: die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen etwa, aber auch nach einem gemeinschaftlich finanzierten, ticketlosen öffentlichen Nahverkehr.

Auch von den Erstwählern, die sonst überdurchschnittlich oft grün wählen, zogen viele die Piraten vor. "Die haben offensichtlich ein Lebensgefühl in dieser Stadt getroffen", räumt auch Spitzenkandidatin Künast ein. "Aber das betrifft nicht nur uns."

Tatsächlich landeten auch von SPD, CDU und FDP insgesamt mehr als 20 000 Wähler bei der jungen Partei - aber eben von keiner so viele wie von den Grünen. "Die Partei punktet in Milieus, die den Grünen bisher ohne eigenes Zutun zugefallen sind", sagt der Bremer Parteienforscher Lothar Probst. "Für viele junge Wähler und Erstwähler verkörpert diese Partei eben etwas Frisches, etwas Abenteuerliches." Genau das aber könnten die Grünen derzeit nicht mehr für sich in Anspruch nehmen.

"Wie bei der Sendung mit der Maus"

Die Analyse der Grünen geht am Montag noch einen Schritt weiter. Im Kampf um Stimmen aus dem bürgerlichen Lager seien zu viele Konturen verlorengegangen, heißt es in den Gremien: Öffnung hin zur CDU und trotzdem kreativ und aufmüpfig sein, das passe schlecht zusammen, sagt auch der junge Grünen-Parteirat Max Löffler. "Wenn man sich auf keinen der beiden Stühle so richtig setzen will, fällt man leicht ins Leere." Die Grünen müssten ihr Profil als moderne linke Partei wieder schärfen. So sehen das nach dieser Wahl viele.

Abgeordnetenhauswahl Berlin - Piraten

Aufstellung zum Klassenfoto: Die Abgeordneten der Piratenpartei sagen von sich, dass sie noch viel zu lernen haben. Das wollen sie angehen "wie bei der Sendung mit der Maus".

(Foto: dpa)

Die Piraten sind fast so etwas wie ein Weckruf. "Sie haben eine junge, neue Anmutung, während wir Grünen inzwischen etabliert sind", befindet Grüne-Jugend-Chefin Gesine Agena. Weswegen sich die Grünen nun fragen müssten, "wie wir trotzdem jung und frisch auftreten können".

Die Piraten selbst hingegen wollen nicht ewig nur mit dem Etikett "jung und frisch" behaftet sein - und in Berlin zeigen, was sie können. Auch mit Blick auf die Bundespolitik: "Wir haben jetzt die Möglichkeit, im Parlament zu demonstrieren, dass wir wirklich Politik machen können und nicht nur darüber reden", sagte der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Sebastian Nerz, im MDR. Er denke, "dass uns das bundesweit viel Vertrauen geben wird." Man sei gut für die künftigen Aufgaben vorbereitet, verfüge über Experten in allen Politikfeldern.

Trotzdem gebe es noch viel zu lernen, beteuern die Piraten in ihrer gewohnt offenen Art immer wieder. Dafür bedienen sie sich natürlich des Internets. In Berlin haben sie einen eigenen Blog eingerichtet. Unter http://www.piratenfraktion-berlin.de/ sollen Bürger die Lernfortschritte der Partei nachvollziehen können.

"Das darf ruhig so ein bisschen sein wie die Sendung mit der Maus", sagt Christopher Lauer, Kandidat im Wahlkreis Pankow. "Zum Beispiel: Wie geht eine kleine Anfrage?" Es gehe für sie darum, mit ihren Wissenslücken offen umzugehen.

"Der Spagat für sie besteht darin, etwas von dem Frechen, Unbekümmerten zu erhalten und gleichzeitig Sachkenntnis und Professionalität zu repräsentieren", sagt auch Parteienforscher Probst.

Offen ist bislang auch, wie sich die Beziehungen zwischen der Großeltern- und der Enkelgeneration auf Dauer darstellen wird. Erfahrungen gibt es dazu derzeit nur aus dem europäischen Parlament, wo für die Piratenpartei der Schwede Christian Engström 2009 einen Sitz ergatterte. So allein wollte er dann doch nicht bleiben: Er schloss sich der Grünen-Fraktion an.

Linktipp: Das Wahlprogramm der Piratenpartei in Berlin finden Sie hier. Das Grundsatzprogramm der Piraten können Sie hier nachlesen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: