Aufstand in Ägypten:Die vielen Fallen der Revolution

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Mubaraks System zerfällt, doch der Präsident klammert sich weiter an seine Macht. Eine friedliche Transformation des Landes hängt aber nicht allein von seinem Rücktritt ab. Drei mögliche Zukunftsszenarien.

Tomas Avenarius, Kairo

Wohin treibt Ägypten? Keiner weiß es, alles ist offen. Drei Szenarien sind möglich. Das eine Szenario ist eine friedliche, verfassungsgemäße Lösung: Keine Gewalt gegen die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz; baldige faire Wahlen, die rasche Demokratisierung Ägyptens.

Nacht über dem Tahrir-Platz in Kairo: Auch am zwölften Tag der Proteste harren die Demonstranten hier aus. (Foto: dpa)

Das andere ist die gewaltsame Auflösung der Demonstrationen auf dem "Befreiungs-Platz", die Niederschlagung der Opposition, Repression. Womöglich ein Blutbad. Das Kairoer Regime mag angeschlagen sein. Aber es bleibt handlungsfähig, gibt sich nicht geschlagen.

Das dritte Szenario ist das Übelste: Sollte das Regime die Revolte niederzuwerfen versuchen, dies aber nicht schaffen, könnte das 80-Millionen-Einwohnerland im Chaos versinken.

Unparteiische Kräfte, die zwischen Präsident Hosni Mubarak und der Opposition vermitteln wollen, gibt es: In Kairo hat sich ein "Rat der Weisen" gebildet. Darin sitzen einer der wichtigsten Unternehmer des Landes, ein Ex-Botschafter in den USA, ein Friedensnobelpreisträger, ein Politologe, ein islamischer Denker und ein Friedensnobelpreisträger für Chemie.

Der Rat schlägt vor, dass Präsident Hosni Mubarak seine offizielle Amtszeit bis zum Ende ausführt und danach die planmäßigen Wahlen abgehalten werden. Inoffiziell solle der Staatschef aber schon jetzt die Amtsgeschäfte in die Hände seines Vizepräsidenten Omar Suleiman legen, sagt Diaa Raschwan vom "Rat der Weisen".

Neuwahlen kämen zu früh

Das wäre eine gesichtswahrenden Lösung für alle: Der von Zehntausenden Ägyptern seit Tagen geforderte Rücktritt Mubaraks wäre hinter den Kulissen vollzogen. Der Staatschef würde nicht länger regieren, hätte aber seine Würde gewahrt.

Der Rücktritt Mubaraks ist die Kernforderung der Revolte und macht ihre Stärke und Einheit aus. Inzwischen ist die Parole "Nieder mit Mubarak, sofort" aber auch das Haupthindernis auf dem Weg zur friedlichen Lösung: Der sofortige Abgang des Mannes an der Staatsspitze würde eine Dynamik in Gang setzen, die schwer zu beherrschen wäre.

Träte der Präsident heute ab, fiele die Macht an seinen Vizepräsidenten. Suleiman müsste innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen ausschreiben. Damit wäre weder dem Regime noch der Opposition gedient. Denn die angeschlagene regierende Nationaldemokratische Partei, deren Zentrale von Protestierenden niedergebrannt wurde, braucht Zeit, sich neu zu organisieren.

Dieser Prozess ist gerade im Gange: Am Samstag ist das Exekutivkomitee zurückgetreten, darunter auch Mubaraks Sohn Gamal. Der neue Generalsekretär Hossam Badrawi ist für seine guten Beziehungen zur ägyptischen Opposition bekannt. Die Regierungspartei rückt also von den belasteten Figuren ab, sie rüstet sich für die Zeit nach Mubarak.

Doch auch die Opposition benötigt Zeit, um sich zu formieren: Die demokratische Jugendbewegung und die außerparlamentarischen Bündnisse wie "Kefeya" sind keine Parteien. Die Namen der Führer der Facebook-Proteste sind nicht bekannt. Die klassischen Oppositionsparteien, die sich dem Jugendaufstand angeschlossen haben, werden zwar von landesweit einigermaßen bekannten Politikern geführt.

Die Parteien wurden vom NDP-Regime aber jahrelang marginalisiert. Sie haben in der offiziellen Politik eine Nebenrolle gespielt. Die traditionellen Oppositionsparteien sind kaum wahlkampffähig.

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Bei den Unruhen in Ägypten stehen sich nicht nur Demonstranten und die Staatsmacht gegenüber. Die Polizei hat andere Interessen als die Armee - und nicht alle Ägypter hoffen auf ElBaradei. Ein Überblick.

Bleiben die Muslimbrüder. Offiziell sind sie als Organisation weiter verboten. Offiziell sind sie nicht einmal eine Partei. Sie sind aber über eigene Moscheen-Netzwerke bestens organisiert.

Anti-Mubarak-Proteste am Tharir-Platz in Kairo: Unparteiische Kräfte gibt es. (Foto: Getty Images)

Sie könnten bei Wahlen mit ihrer alten Parole "Der Islam ist die Lösung" in dem zu 90 Prozent muslimischen Land wohl am ehesten aus dem Stand antreten. Genau das ist das Schreckensszenario des Kairoer Regimes und der westlichen Staatengemeinschaft.

Bisher erheben die Brüder allerdings keine politischen Forderungen. Ihre früher vorgelegten Programme lassen aber daran zweifeln, dass sie klare politische Vorstellungen von der Führung eines 80-Millionen-Staates haben. Das erklärt, warum der "Rat der Weisen" und die Regierungen der USA und Europas gebetsmühlenartig auf einer raschen, friedlichen und Verfassungsgemäßen Lösung beharren.

Sollte Mubarak noch sechs oder sieben Monate im Amt bleiben, die Amtgeschäfte aber ruhen und Suleiman seine Arbeit übernehmen lassen, bliebe der demokratischen Opposition Zeit sich zu organisieren. Die Proteste würden aufhören. Politische Vorschläge und Gespräche würden an ihre Stelle treten. Der Konflikt wäre von der Straße auf den Verhandlungstisch gehoben worden.

Verfassung lässt Opposition keine Chance

Nur dann könnten die für faire Wahlen nötigen Verfassungsänderungen in Angriff genommen werden. Mubarak hatte das Grundgesetz vor einigen Jahren selbst verändert: Zu seinem Vorteil. Als Präsidentschaftskandidat konnten nur noch Personen antreten, die starken Rückhalt im Parlament haben.

Das Unterhaus aber wird nach den letzten manipulierten Wahl mit mehr als 80 Prozent der Sitze von Mubaraks NDP dominiert. Kurz: Nach der derzeitigen Verfassung- und Gesetzeslage hätte ein Oppositionspolitiker keine Chance.

Eine Verfassungsänderung ist Voraussetzung für faire Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Verfassungsänderungen müssen durch das Parlament bestätigt werden. Entweder müsste gleich ein neues Parlament gewählt oder die manipulierte Wahl von den Gerichten korrigiert werden.

Eine friedliche Transformation der Macht hängt also nicht allein am Rücktritt Mubaraks. Sie erfordert mehrere Monate Zeit, um die verfassungstechnischen Schritte einzuleiten. Das wird einfacher, wenn Mubarak Präsident bleibt, die Macht aber de facto aus der Hand gibt.

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Ein Land im Chaos: Tausende Gegner des Regimes harren auf dem Tahrir-Platz aus. Die Opposition hofft, das es der "Tag des Abgangs" für Mubarak wird. Impressionen aus Ägypten.

Die USA sollen hinter den Kulissen bereits einen Vorschlag ausgearbeitet haben: Mubarak, der gesundheitlich angeschlagen ist und vor einiger Zeit in Heidelberg operiert wurde, fliegt zu einer Nachuntersuchung nach Deutschland. Die Genesungsphase zieht sich hin. Suleiman führt derweil die Geschäfte und leitet in Zusammenarbeit mit der Opposition den friedlichen Wandel ein.

Das erfordert das Vertrauen der Opposition in Suleiman. Daran fehlt es. Bisher hat das Regime den Demonstranten keinerlei Garantien geben. Tag für Tag werden weitere Blogger und Protestierende verhaftet. Und Suleiman ist seit Jahrzehnten der treuer Diener Mubaraks.

Der Vizepräsident mag den aktuellen Konflikt beilegen wollen. Die Demontage des Regimes will er nicht. Genau die aber fordern die Demonstranten, wenn sie nach dem Aus für den Staatschef rufen. Sie sagen Mubarak und meinen das gesamte System.

Es gibt noch ein zweites Szenario: Das Regime schlägt zurück, beendet das kurze demokratische Abenteuer auf dem Befreiungsplatz mit Gewalt.

Der Vize-Präsident hatte in einem Fernsehinterview widersprüchliche Signale ausgesendet: Der frühere Armee- und Geheimdienstgeneral hatte die ägyptische Jugend gelobt. Sie habe ihre Revolte mit "legitimen Forderungen" begonnen. Dann hätten "andere und ausländische Kräfte" sich eingemischt. Sie manipulierten die Protestbewegung.

Ausländische Einmischung: Das ist in Ägypten der Aufruf, die nationalen Reihen zu schließen. Wen genau er gemeint hat, ließ Suleiman offen. Für die Mehrheit der Ägypter dürften es die USA und - trotz Friedensvertrags - der alte Erzfeind Israel sein.

Der Vize-Präsident, früher Geheimdienstchef, dürfte andere im Sinn haben: Iran, die libanesische Hisbollah, die palästinensische Hamas und andere Fundamentalisten. Irans geistlicher Führer Ayatollah Ali Khamenei goss von Teheran aus zudem Öl ins Feuer: Mubarak habe sein Volk betrogen, weil er jahrzehntelang enge Beziehungen zu den USA und zu Israel unterhalten habe. "Amerikas Kontrolle über die Führer Ägyptens hat das Land in einen der größten Feinde der Palästinenser und eines der größten Rückzugsgebiete der Zionisten verwandelt".

Der Eindruck der Gefahr

Der persische Islamisten-Führer sprach von einem "islamischen Erwachen" in der Region. Das klang so, als ob an den Pyramiden eine islamische Revolution bevorstehe wie die persische von 1979. Und da die ägyptischen Fundamentalisten von der Muslimbruderschaft inzwischen ein tragender Teil der Tahrir-Revolution sind, erscheinen sie somit als der verlängerte Arm feindlicher Mächte.

Sie erklärten sofort: "Die ägyptischen Proteste sind kein 'islamischer' Aufstand, sondern ein Massenprotest gegen ein ungerechtes, autokratisches Regime, der Ägypter aus allen Lebensbereichen, allen Religionen und allen Sekten einschließt."

Der US-Sender Fox News berichtete, es habe einen Anschlagsversuch auf Vizepräsident Suleiman gegeben. Auch wenn der Sender sich auf Quellen in der US-Regierung beruft: Niemand wollte die fragwürdige Meldung bestätigen. Ein hochrangiger ägyptischer Geheimdienstmitarbeiter wies den Bericht als frei erfunden zurück.

Zudem brannte am Samstag die ägyptisch-israelische Gaspipeline nach Israel: Unbekannte hatten die Rohrleitung gesprengt. Wer auch immer dahinter steckt: Solche Sabotage verstärkt den Eindruck, dass Ägypten in Gefahr ist. Dazu die internationalen Medien, die mit ihrer Berichterstattung das Bild des Landes beschmutzen, wie die Staatsmedien behaupten. Das zusammen könnte reichen, den Druck und die Wut nach außen zu lenken.

Verräter und Repressionen

Tatarenmeldungen, Anschläge, das angeblich anstößige Verhalten der internationalen Medien - da ist die Schlussfolgerung nahe liegend: Die Nation ist bedroht. Der demokratische Tumult auf dem Tahrir muss aufhören. Ägypten und die Ägypter müssen zusammen stehen.

Wer das nicht tut, ist kein Ägypter, sondern ein Verräter. Das könnte das Vorspiel dafür sein, die Demonstration auf dem Tahrir gewaltsam aufzulösen. Und das könnte die Vorstufe von größter Repression oder aber dem Absturz des Landes in die Anarchie sein.

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