Was bedeutet es für den Einzelnen und die Gemeinschaft, Widerstand gegen eine verbrecherische Übermacht zu leisten, wenn der Tod jeden Augenblick eintreten kann? Wie kann Widerstand unter extremen Lebensbedingungen funktionieren und ein – allerdings begrenztes – Gegengewicht zum Vernichtungspotenzial der „Herrenmenschen“ bilden?
Dank guter Quellenlage können wir auf einen breiten Fundus an historisch unverzichtbaren Erkenntnissen über den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 zurückgreifen, etwa auf „Oneg Schabbat“ von Emanuel Ringelblum. Der jüngst erschienene Erinnerungsband von Marek Edelman vervollständigt diesen Fundus und schließt eine der letzten Lücken. Kurz nach seinem Tod im Oktober 2009 entdeckten Freunde und sein Sohn in Edelmans Wohnung drei Notizbücher „Erinnerungen an das Warschauer Ghetto“, geschrieben 1967/68, die nun zum ersten Mal auf Deutsch vorliegen.
Als Kurier für das Kinderkrankenhaus
Die Vielfältigkeit des Widerstandes und seine Strukturen– in Edelmans Schilderungen mit Fokus auf die Gruppe Bund gerichtet – kommen so mit besonderer Prägnanz zum Vorschein und lassen den Überlebenskampf der Warschauer Juden unausweichlich vor unseren Augen erscheinen.
Marek Edelman wurde 1919 in Gomel (heute Belarus) geboren, trat in jungen Jahren der sozialistischen Gruppierung Bund bei und begann im Oktober 1939 als Kurier des Kinderkrankenhauses Bersohn-Bauman zu arbeiten. Schon früh betätigte er sich im Untergrund. Im November 1940 wurde er wie 400 000 Warschauer Juden in das Ghetto gesperrt. Er galt als einer der wichtigsten Vertreter vom Bund, jener jüdisch-sozialistischen Partei, die bereits 1897 in Wilna gegründet worden war und eine bedeutende Rolle im Widerstand, auch in anderen Ghettos, etwa in Litzmannstadt/Łódź, spielte. Sie setzte sich deutlich von anderen linken und kommunistischen Untergrundorganisationen ab, von denen viele aktiv gegen die deutsche Übermacht kämpften.
Die Mitglieder vom Bund waren keine Zionisten, sondern sie befürworteten eine enge Zusammenarbeit mit Proletariern anderer Länder zur Stärkung des Sozialismus. Ihre jiddische Kultur spiegelte sich vor allem im Gebrauch des Jiddischen in ihren Untergrundzeitungen wider. Marek Edelman arbeitete mit seinen Freunden vom Bund eng zusammen, unter schwierigsten Umständen wurden regelmäßig erscheinende Untergrundschriften in konspirativen Verstecken und Wohnungen gedruckt, die unter ständiger Lebensbedrohung verteilt wurden. Als im Sommer 1942 die Deportationen zur Vernichtung der Juden nach Treblinka begannen, druckten Marek Edelman und seine Parteifreunde Plakate, um die Menschen vor den Maßnahmen der Deutschen zu warnen. „Für mich existierte während dieser drei Jahre nichts außer der Tätigkeit für die Organisation“, so berichtet er in seinem ersten Notizbuch. Ständig war er unterwegs und konnte in seiner offiziellen Funktion als Kurier des Kinderkrankenhauses besonders effektiv für den Widerstand tätig sein.
Flucht durch die Kanalisation
Im Oktober 1942 schlossen sich die jungen Bundisten der jüdischen Kampforganisation YKO (Yidishe Kamf Organizatsye) an. Während des bewaffneten Aufstands im Ghetto im April/Mai 1943 erhielt Marek Edelman das Kommando im Gebiet der Bürstenfabrik. Am 10. Mai 1943 gelang ihm durch die Kanalisation die Flucht aus dem Ghetto, um an der Seite des polnischen Widerstandes im Warschauer Aufstands 1944 gegen die Deutschen zu kämpfen.
„Das Ghetto kämpft“, geschrieben 1945 und 1949 von der kommunistischen Partei verboten, ist Edelmans frühester Text über den Warschauer Ghettoaufstand. Mehrere Zeitungen lehnten es später ab, diesen für die Leitung des Bund bestimmten Bericht zu veröffentlichen, das politische Klima in Polen war von starker Unsicherheit geprägt. Es war eine gute Entscheidung, diesen frühen und lange vergriffenen Bericht nun wieder in die vorliegende Ausgabe aufzunehmen.
Marek Edelman wird als bescheiden, aber oft auch als undurchschaubarer Widerstandskämpfer beschrieben. Nach Kriegsende lehnte er kategorisch die Rolle eines Helden ab und betonte immer wieder, dass sich viele Menschen im Ghetto auch in schwersten Situationen solidarisch verhalten und bewährt hätten.
Erstarkender Antisemitismus in Polen nach dem Krieg
Ende der 1940er-Jahre zog Edelman mit seiner Frau nach Łódź, um dort Medizin zu studieren. Er wurde ein angesehener Kardiologe, der – wie so viele Juden – im Zuge des wiedererstarkten Antisemitismus in den 1960er-Jahren seine Position verlor. Dank der Hilfe von Bekannten konnte er eine Tätigkeit auf seinem Gebiet 1968 wieder aufnehmen. Seine Frau, Alina Margolis-Edelman, gab aufgrund der Entwicklung in Polen ihre Position als Kinderärztin auf und zog 1971 mit ihren Kindern nach Frankreich. Marek Edelman blieb in Łódź und geriet in Konflikt mit der kommunistischen Führung, nachdem er sich der Gewerkschaftsbewegung Solidarność angeschlossen hatte.
Edelmans Sprache ist meist nüchtern-sachlich, er sieht sich mehr in der Rolle eines knapp formulierenden Berichterstatters. Doch genau durch diese vermeintliche, vorgeschobene Nüchternheit nutzt er eine gewisse Distanz, die ihm das Schreiben über das Grauen erleichtert und den Leser zwingt, innezuhalten und seine Sätze wirken zu lassen. Besonders beklemmend wird dies bei seiner Beschreibung der „Aktion“ im Sommer 1942: Die Deutschen haben damit begonnen, die Menschen des Ghettos in langen Schlangen zum „Umschlagplatz“ zu treiben, um sie von dort zur Vernichtung nach Treblinka zu bringen. Edelman beschreibt, wie er und seine Freunde vom Bund immer wieder versuchen, einzelne Personen aus dieser dicht gedrängten Menschenmenge herauszuholen, um sie vor dem Tod zu bewahren. Ob diese Strategie erfolgreich war, wird in seinen Texten nicht eindeutig klar.
Kampf für einen menschenwürdigen Sozialismus
Das, was den Band auszeichnet, ist außer weiteren Erkenntnissen über den Widerstand im Warschauer Ghetto, die aus dem Schatten tretende Persönlichkeit eines hoch motivierten Kämpfers gegen das verbrecherische Regime der Besatzer und für einen menschenwürdigen Sozialismus. Das Buch liefert außer einer fundierten Einführung in kontextuale Zusammenhänge (etwa über den Umgang mit Geschichte im Nachkriegspolen), Kurzbiografien der wichtigsten Mitstreiter von Edelman, eine Zeittafel, vertiefende Anmerkungen zu komplexen Vorgängen und zu relevanten Personen im thematischen Umfeld.
Zusammengefasst: Die Bilder gehen uns nicht aus dem Kopf, sie entstehen beim Lesen der überlieferten Zeugnisse des aktiven Auflehnens gegen die „perfektionierte“ Mordmaschinerie der Deutschen. Die Erinnerungen sind ein weiteres bedeutendes und mahnendes Vermächtnis. Heute trägt das Zentrum für multikulturellen Dialog (Centrum Dialogu) in Łódź den Namen Marek Edelman.
Jens-Jürgen Ventzki („Seine Schatten, meine Bilder: Eine Spurensuche“) wurde 1944 als Sohn des NS-Oberbürgermeisters Werner Ventzki in Litzmannstadt geboren. Seinem Vater unterstand die deutsche Verwaltung des dortigen Ghettos als städtische Behörde.