Süddeutsche Zeitung

Aufstand gegen Hitler vor 70 Jahren:Wert der Zivilcourage

Mahnung, Lehre und Appell des 20. Juli 1944: Ziviler Ungehorsam kann auch 70 Jahre nach Stauffenbergs Hitler-Attentat geboten sein. Widerstand in der Demokratie heißt aufrechter Gang. Er heißt Amnesty, Greenpeace, Pro Asyl und Edward Snowden.

Von Heribert Prantl

Noch am Abend des 20. Juli wurden Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitverschwörer Friedrich Olbricht, Albrecht Ritter Merz von Quirnheim und Werner von Haeften im Hof des Bendlerblocks in Berlin erschossen. Viele der anderen Widerstandskämpfer gegen Hitler hat dann Roland Freisler, der tobende Präsident des "Volksgerichtshofs", in Schau- und Schreiprozessen zum Tode verurteilt.

Diese Widerstandskämpfer waren überwiegend keine Demokraten; nicht wenige von ihnen hatten zuvor dem NS-Regime gedient, waren selbst in unterschiedlichem Maß schuldig geworden. Sie hatten aber, mit sich ringend, den Weg zum Widerstand gefunden - und boten nun dem Totalitätsanspruch des NS-Staates mit kühner Widerspenstigkeit die Stirn. Vor dem Unrechtsrichter Freisler stand ein anderes, ein besseres Deutschland. Mit bemerkenswerter Unerschrockenheit traten sie dem Henker entgegen. Das ist jetzt siebzig Jahre her.

Ihre zweihundert Namen müssten eigentlich als Überschrift und Präambel über dem Grundgesetzartikel 20 Absatz 4 stehen; und neben ihren, meist aristokratisch-konservativen Namen müssten die Namen der linken Widerständler stehen, von denen so viele in den Konzentrationslagern elendig umkamen. Dazu die Namen der Mitglieder der Weißen Rose und der von Georg Elser, der schon 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe gegen Hitler zündete. Dieser Artikel 20 Absatz 4 ist ihr Artikel: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist".

Appell an die Courage der Demokraten

Dieser Satz des Grundgesetzes ist eine Lehre aus verbrecherischer Zeit, er ist Mahnung, er ist Appell - und er ist auch Aufforderung, nicht so lange zu warten, bis "andere Abhilfe nicht mehr möglich ist", also nicht erst dann aufzustehen, wenn es zu spät ist. Der Widerstands-Artikel appelliert an die Courage der Demokraten, es nicht so weit kommen zu lassen, dass man den großen Widerstand braucht. Dieser Artikel ist auch eine Werbung für den kleinen, für den gewaltlosen Widerstand.

Man sollte die Widerständler vom 20. Juli nicht zu Märtyrern der bundesdeutschen Demokratie machen, die sie nicht sind; und nicht für Werte in Anspruch nehmen, die sie zu ihren Lebzeiten nicht unbedingt geteilt haben. Man darf sie als Vorläufer der neuen Ordnung sehen. Wenn man den Artikel 20 Absatz 4 das Vermächtnis des 20. Juli und des gesamten Widerstands gegen Hitler nennt, dann erinnert man damit an die große Schwäche des Bürgertums im Nazi-Reich: Es gab keinen Widerstand aus der politischen Mitte. Deshalb beschreibt der Widerstandsartikel des Grundgesetzes die Ultima-Ratio-Verteidigung für die Demokratie, den Sozialstaat und die Bindung an Recht und Gesetz.

Viele Staatsrechtler halten den Widerstands-Artikel für pathetisches Larifari, für ein verfassungsrechtliches Alien: Wenn der Widerstand erfolgreich sei, so sagen diese Staatsrechtler, dann brauche man doch hinterher keine große Rechtfertigung durch ein ausdrückliches Recht; und wenn der Widerstand scheitere, dann helfe so ein Recht auch nichts mehr. Eine solche Bewertung ist falsch; sie ist Frucht akademischer Überheblichkeit; sie verkennt die Kraft des Symbols.

Gewiss: Dieser Widerstandsartikel stand nicht von Anfang an im Grundgesetz; er kam erst zwanzig Jahre später, 1969, hinein - als Kompromissformel angeblich, um der SPD die Zustimmung zu den Notstandsgesetzen zu erleichtern. Wenn es wirklich so war, dann war dieser Artikel das Beste, was die Notstandsgesetze gebracht haben. In ihm stecken die Forderung und die Erkenntnis, dass in der Demokratie der kleine Widerstand beständig geleistet werden muss, auf dass der große Widerstand nie mehr notwendig wird.

Ziviler Ungehorsam kann unbändige positive Kraft haben

Widerstand in der Demokratie heißt anders: Er heißt Widerspruch, Zivilcourage, er heißt aufrechter Gang, er heißt Edward Snowden oder Kirchenasyl oder Stuttgart 21; er heißt Cap Anamur, Amnesty, Greenpeace, Pro Asyl und Occupy.

Er besteht in der Demaskierung von Übelständen. Dieser kleine Widerstand hat die Namen all derer, die nicht wegschauen, wenn sie meinen, dass in Staat und Gesellschaft etwas ganz falsch läuft. Er hat die Namen all derer, die wachrütteln, Unrecht aufdecken, Missstände benennen und dafür persönlich geradestehen. Und er hat die Namen all derer, die gegen Unrecht nicht nur im Eigeninteresse ankämpfen und dabei Niederlagen vor Gericht erleiden, die den langen Instanzenzug durchwandern und dann mit ihrem Anprangern verfassungswidriger Zustände vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe Erfolg haben.

Auf diese Erfolgskraft hoffen und bauen auch die Menschen, die sich gegen den Machtwechsel von den Staaten hin zu den Konzernen wehren - in den Protesten gegen das Freihandelsabkommen TTIP und gegen Tisa, das geplante Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen. Sie warnen davor, dass den Staaten und der Demokratie die Macht aus den Händen rinnt und sich in der Wirtschaft zusammenballt.

Der kleine Widerstand kostet nicht Kopf und Kragen wie der Widerstand in der Diktatur; aber ganz billig ist er auch nicht, wie vor allem Whistleblower wissen - das gilt nicht nur für Leute wie Snowden und Chelsea Manning. So ganz klein ist nämlich dieser kleine Widerstand nicht immer. Man muss es aushalten, als Nestbeschmutzer oder Vaterlandsverräter zu gelten.

Manchmal kostet der kleine Widerstand die berufliche Existenz. Manchmal ist er strafbar, manchmal führt er gar ins Gefängnis. Man nennt ihn dann zivilen Ungehorsam. Aber bisweilen hat dieser strafbare zivile Ungehorsam sogar die Kraft, seine Bestrafung zu beenden. So war es einst beim Widerstand gegen die atomare Nachrüstung in Deutschland: Ein Jahrzehnt lang wurden die Friedensdemonstranten als Gewalttäter bestraft, weil sie sich vor die Depots gesetzt hatten, in denen die mit atomaren Sprengköpfen bestückten US-Pershing-Raketen lagerten.

Aber dann beschlossen die Richter des Bundesverfassungsgerichts 1995, dass solche Sitzblockaden nicht automatisch als Nötigung bestraft werden können; viele Friedensdemonstranten mussten von den Gerichten rehabilitiert und freigesprochen werden. Der Staat hatte geirrt, als er verurteilte. Die Demonstranten hatten den Irrtum ertragen, erduldet und im Gefängnis abgesessen. In diesem Erdulden lag die Kraft zur Veränderung. Es ist die Kraft des langen Atems.

Wehret den Anfängen: Die bedrückende Erinnerung an den großen, den überfälligen und dann doch vergeblichen Widerstand vor 70 Jahren hat diese Botschaft ins Grundgesetz geschrieben.

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Quelle:
SZ vom 19.07.2014/lala/odg
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