Süddeutsche Zeitung

Aufruhr in Tunesien:Revolution ohne Atempause

Ein Land kommt nicht zur Ruhe: In Tunesien flammen die Proteste wieder auf. Demonstranten haben den Rücktritt des belasteten Übergangspremiers erzwungen und fordern nun eine "Regierung des Volkes".

Rudolph Chimelli, Tunis

Nur 44 Tage lang war Mohamed Ghannouchi Premier der provisorischen zweiten Republik Tunesien. Letztlich brachte ihn zu Fall, dass er dieses Amt bereits zwölf Jahre lang unter dem vertriebenen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali ausübte - ohne sich zu bereichern, aber loyal. Die Revolutionäre misstrauten seinem Willen zur Veränderung.

Sein Nachfolger Béji Caïd Essebsi ist ein Mann aus der Zeit vor Ben Ali. Der liberale Jurist diente Staatsgründer Habib Bourguiba während der sechziger und siebziger Jahre als Außen- und Verteidigungsminister sowie als Botschafter in Frankreich und Deutschland. Das Wort "Zukunft" kann in Verbindung mit dem Namen des 84-Jährigen allenfalls für eine kurze Übergangsperiode gebraucht werden.

In der Altstadt von Tunis wird gerade das Dar Caïd Essebsi restauriert, einer der schönsten Paläste. Es wurde vom Urgroßvater des Premiers am Ende eines romanhaften Lebens errichtet: Seeräuber hatten ihn zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Sardinien entführt und dem Bey von Tunis geschenkt. Als persönlicher Sklave des Herrschers machte der junge Italiener im Serail rasch Karriere. Er wurde einer der Tabak-Zureicher, die darüber wachten, dass eifersüchtige Verwandte den Bey nicht vergifteten, übernahm später die Verwaltung großer Kornspeicher, arbeitete an einer Art Grundgesetz mit, dem ersten in der arabischen Welt, und heiratete schließlich in die Familie des Beys ein.

"Warum nicht wenigstens 24Stunden nachdenken"

Historie beeindruckt die Computer-Generation, die sich binnen Stunden zu Zehntausenden gegen die Regierung mobilisieren lässt, nur wenig. Immerhin verblüffte die schnelle Ernennung Essebsis durch den Übergangs-Präsidenten Foued Mebazaa die Mehrheit der Tunesier. "Warum nicht wenigstens 24Stunden nachdenken und Konsultationen führen?", murrt der Chef des Gewerkschaftsbundes UGTT, Ali Ben Rhomdane. Die Gewerkschaften haben mit ihrem landesweiten Netz einen wichtigen organisatorischen Beitrag zum Sturz Ben Alis geleistet. Jetzt sind sie zerstritten, und ihre Führung ist bei vielen Mitgliedern diskreditiert, weil sie sich vom Diktator einspannen ließ.

Nicht einmal eine Atempause ist dem von Demonstrationen und Streiks geplagten Land sicher. Der Hof der Kasbah, des Sitzes der Regierung am Rande der Medina, wo einige tausend Demonstranten seit mehr als einer Woche ihr Zeltlager aufgebaut haben, ist weiterhin besetzt. "Wir bleiben, bis eine verfassungsgebende Versammlung gebildet ist und bis der Rat zum Schutz der Revolution anerkannt wird", sagte am Montag der Sprecher der Besetzer, Mohamed Fadhe.

Die Hauptforderdung "Ghannouchi, hau ab!" ist zwar erfüllt, doch das Kabinett ist nicht erneuert. "Die Regierung Ben Alis muss durch eine Regierung des Volkes ersetzt werden", fordert auch Rached Ghannouchi, der Chef der islamistischen An-Nahda-Partei, ein Namensvetter des Zurückgetretenen, aber nicht mit ihm verwandt. Die nächste Regierung, so der Islamist, müsse sich die Unterstützung jenes selbst ernannten Rates zum Schutz der Revolution sichern. Dieser Rat existiert neben den Institutionen und fordert eigenständige Macht sowie Kontrollrechte über die Regierung.

In ihm haben sich die Kräfte vereinigt, die einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit wollen. Sie argwöhnen, die Ehemaligen, die in der Regierung und in der Verwaltung sitzen, arbeiteten insgeheim daran, unter dem Vorwand einer Stabilisierung der Lage das System zu erhalten. "Sie machen Marketing für Ben Ali light", sagen Zyniker.

Laut Verfassung endet die Legitimität des jetzigen Regimes am 15. März. Doch institutionell ist wenig geschehen.

"Wir haben ein Zeit-Problem", beteuert Yadh Ben Achour, der Vorsitzende der Kommission für Politische Reform und Demokratischen Übergang. "Wenn Sie glaubhafte Wahlen in zwei Monaten haben wollen - das ist nicht möglich", erklärt er Journalisten. Dazu sei ein neues Wahlgesetz nötig. Die Landkarte der Wahlkreise und Stimmlokale müsse neu gezogen werden. Kontrolleure müssten ausgebildet werden. Man könne nicht abstrakt argumentieren, sondern müsse sich an die Realitäten halten. Optimisten unter den Experten meinten, ein Minimum von 22 Wochen nach Verabschiedung des Wahlgesetzes sei nötig.

Ben Achour ist ein erfahrener Jurist und Islamkenner. Als entschiedener Gegner Ben Alis ist er vor 20 Jahren aus dem Verfassungsrat ausgetreten. Aber jetzt fleht er seine Landsleute an: "Ohne ein Minimum an Vertrauen geht gar nichts." Die Revolution habe nicht nur Ben Ali gestürzt, sondern "die politischen Gehirne der Tunesier neu geformt". Er hat sein anspruchsloses Büro im vierten Stock einer staatlichen Bank im Geschäftsviertel der Hauptstadt. Mit einem Anflug von Pessimismus erkennt Ben Achour die Notwendigkeit, "die öffentliche Meinung durch schnelle Entscheidungen zu beruhigen". Aber er weiß nicht, wie.

Denn jeder erwartet, dass sich die Revolution für ihn persönlich schnell auszahlt. Die Revolution aber verharrt im Wartesaal. Die Arbeiter erhofften vom Sieg über den Diktator sofortige Erhöhung ihrer Hungerlöhne: Die Männer der Müllabfuhr, die vor dem Umsturz umgerechnet 100 Euro im Monat verdienten, stellten ihre Arbeit ein, bis die Hauptstadt verdreckte und sie 175 Euro bekamen. Solche Druckmittel stehen nicht allen zur Verfügung, doch überall im Land wird gestreikt. Die staatliche Fluggesellschaft TunisAir, die von Ben Ali finanziell geschröpft wurde, fliegt - oder sie fliegt eben nicht.

Das größte Hotel in der Avenue Habib Bourguiba im Zentrum von Tunis ist seit Wochen wegen Streik geschlossen. Nur langsam läuft der Tourismus wieder an. Das Heer der Universitätsabsolventen ohne berufliche Perspektive ging davon aus, Freiheit sei gleichbedeutend mit Brot. Vorläufig nutzen sie die Zeit, die ihnen im Übermaß zur Verfügung steht, zum Demonstrieren.

Ihre Freude am Polit-Karneval ist noch nicht erschöpft. Wenn sich aber ihre Hoffnungen dauerhaft als Illusion erweisen, wird die Lage explosiv. Das letzte Wochenende mit Krawallen und Plünderungen war ein düsteres Vorzeichen. Islamisten, die am Volksaufstand geringen Anteil hatten, aber über die breiteste Massenbasis verfügen, möchten einen Scharia-Staat.

Den bekommen sie nicht, denn sie wissen, dass die Mehrheit der Tunesier ihn nicht akzeptieren würde. Also erzwingen sie die Schließung der schäbigen Bordelle in der Medina. Ein geringer Erfolg für eine Bewegung, die während des Vierteljahrhunderts der Ära Ben Ali zwischen 80.000 und 100.000 Anhänger oder Sympathisanten in den Gefängnissen hatte.

Er schwärmt für Rosa Luxemburg

Für den politischen Islam hat Habib Guiza als überzeugter Laizist nichts übrig. Selber musste er fünf seiner 58 Jahre im Kerker verbringen. Er ist Chemiker von Beruf, Gewerkschaftler seit bald vier Jahrzehnten und hat mit Gleichgesinnten den unabhängigen Gewerkschaftsbund CGTT gegründet. Obwohl nicht illegal, wurde er unter Ben Ali unterdrückt.

Die neue Gewerkschaft hat noch wenig Geld, erst 10.000 Mitglieder, aber ist bereits im ganzen Land präsent. In der alten UGTT sind nur noch 200.000 oder zehn Prozent der tunesischen Arbeiter. "Keine Einheitspartei, keine Einheitsgewerkschaft mehr", erklärt der kleine, lebhafte Mann die sozialdemokratische Ausrichtung seines Bundes. "Wir sind für Pluralismus."

Politiker will Guiza auch im neuen Tunesien nicht werden. Aber er schwärmt für Rosa Luxemburg. Ein Gründer der tunesischen Gewerkschaftsbewegung ging einst in Berlin in die Lehre.

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SZ vom 01.03.2011/dmo
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