Aufruhr in Libyen:Gaddafis zynisches Kalkül

Er hat den Osten Libyens an die Rebellen verloren, doch Gaddafi ist jetzt in einer stärkeren Position als zu Beginn des Aufstands: Der Diktator setzt auf die Schwächen seiner Gegner und die Vergesslichkeit des öl-abhängigen Westens.

Tomas Avenarius

Gute Nerven hat er: Muammar al-Gaddafi sitzt in seinem Zelt in Tripolis, droht seinem aufständischen Volk in stundenlangen Reden und wartet gelassen alles Weitere ab. Die Fernsehbilder aus seinem eigenen Land lassen ihn offenbar unbeeindruckt. Die Rebellen kontrollieren den Osten Libyens, haben in den Städten Bengasi und Baida Bürgerräte und eine Art Revolutionsregierung ausgerufen. Sie schwenken die Fahne des früheren Königs und demütigen den seit 42 Jahren herrschenden Despoten vor den Kameras internationaler Fernsehsender.

Libyan leader Muammar Gaddafi waves in Tripoli before making a speech

Der libysche Diktator Gaddafi präsentiert sich in Tripolis als unumschränkter Herrscher.

(Foto: REUTERS)

Solche Symbolik aber kümmert Gaddafi nicht: Er präsentiert sich in Tripolis als unumschränkter Herrscher. Der Revolutionsoberst von 1969 weiß, dass der Weg von der unfertigen Revolution 2011 bis zu seinem eigenen Sturz noch weit ist. Das Ergebnis des Aufstands gegen Libyens verhassten "Bruder Führer" bleibt vorerst offen.

Nach dem ersten Schock über Ausmaß und Tempo der Revolte beginnt der Diktator, seine ins Wanken geratene Herrschaft zielgerichtet zu stabilisieren. Der Vormarsch der Aufständischen ist westlich von Bengasi steckengeblieben. Gaddafis Flugzeuge bombardieren die nahe Ölstadt Brega. Sie lassen die Regimegegner so die ungebrochene Militärmacht des Diktators spüren. Die Aufständischen aber gehen bisher nicht in die Offensive. In den Städten westlich des Rebellengebiets tut sich wenig: Im Gegensatz zu den Bürgerrevolten in den östlichen Zentren konnten Gaddafis Milizionäre das Aufbegehren von weiten Teilen der Bevölkerung immer wieder niederschlagen. Einige der kleineren Orte rund um Tripolis mögen in die Hand der Opposition gefallen sein: Gaddafis Machtbasis aber ist die Hauptstadt.

Im Westen des Landes ist Gaddafi ohnehin stärker als in der Cyrenaika, dem historisch rebellischen Osten. Die Zahlen sprechen für sich: Im Westen leben 70 Prozent der Libyer, im Osten 30. Wer das Land kontrolliert, scheint fürs Erste klar zu sein. Die unvollendete Revolution gegen einen der übelsten Diktatoren der arabischen Welt droht auf halbem Weg steckenzubleiben.

Die Aufständischen hoffen auf internationale Hilfe

Die Aufständischen hoffen inzwischen auf internationale Hilfe unter dem Schirm der Vereinten Nationen. Ursprünglich hatten sie sich jede Einmischung von außen verbeten, wollten den Despoten alleine stürzen. Inzwischen fürchten sie, dass ihnen dies wohl nicht gelingt. Aber die Staatengemeinschaft gibt sich zurückhaltend, mit dem Argument: Jede noch so begrenzte Militärintervention könnte der libyschen Revolution die Legitimation rauben. In der Tat könnte der Einsatz fremder Truppen außer Kontrolle geraten: Die Gefangennahme dreier holländischer Soldaten durch Gaddafi-Truppen bei einer geheimen Evakuierungsaktion zeigt, wie schnell ausländische Soldaten zu Geiseln des Gegners werden können.

Amerikaner und Europäer wissen: Eine Flugverbotszone über Gaddafis Reich lässt sich nur dann einrichten, wenn vorher die Luftabwehrraketen und Kasernen des Libyers zerstört werden. Wer das Land bombardiert, könnte sich schnell zum Einsatz von Bodentruppen gezwungen sehen. Damit drohte die Verwicklung in einen weiteren Krieg in der arabisch-islamischen Welt. Dieser Krieg wäre nicht zu gewinnen. Das ist nicht schön. Aber es erklärt die Zurückhaltung.

Gaddafi ist in einer weit stärkeren Position als zu Beginn des Aufstands. Der Diktator hat Erfahrung mit der Staatengemeinschaft: Als Unterstützer von Terrorgruppen aller Couleur hat er jahrelang internationale Sanktionen und US-Bombardements ausgesessen. Nach einer politischen Kehrtwende wurde er von heute auf morgen Freund des Westens und einer der wichtigsten Öl-Lieferanten der Europäer. Gaddafi ist ein Zyniker. Er spielt auf Zeit, setzt auf die Uneinigkeit der politisch unerfahrenen Opposition und spekuliert auf das kurze Gedächtnis des öl-abhängigen Westens.

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