Aufregung um Ramelow:Föderalismus à la carte

Jeder Regierungschef verklärt das eigene Corona-Solo zur Großtat - und verdammt die anderen. Warum schaut Merkel zu?

Von Nico Fried

Bodo Ramelow mag allerlei Gründe haben, demnächst den allgemeinen Lockdown in Thüringen aufzuheben - ein geringfügiges Infektionsgeschehen aber kann nicht dazugehören: Zwei besonders von Corona betroffene Landkreise liegen in Thüringen. Die Lage ist zumindest fragil. Plausibler erscheint es da schon, dass der Ministerpräsident mit seinem Alleingang einfach taktisch kalkuliert: Es soll ja ihm persönlich wohlgesinnte Wirtschaftsvertreter in Thüringen geben, die Ramelow bislang nur deshalb nicht wählen wollten, weil er zur Linken gehört. Denen macht der Regierungschef ein Dreivierteljahr vor der Landtagswahl ein Geschenk, das sie ihm bis April 2021 kaum vergessen dürften. Jedenfalls solange nichts schiefgeht.

Viele von Ramelows Kollegen in anderen Landeshauptstädten regen sich nun auf über den Thüringer. Das allerdings ist nicht minder wohlfeil, wenn man bedenkt, welchen Verlauf die Corona-Politik in Deutschland genommen hat. Es gab eine Zeit, in der sich Bund und Länder zumindest bemühten, die Bekämpfung der Pandemie, die in die Zuständigkeit der Länder fällt, wenigstens unter der Regie des Kanzleramts zu koordinieren. Dem positiven Gesamteindruck hat das nicht geschadet. Doch vor allem als es nach einigen Wochen nicht mehr ums Beschränken ging, sondern ums Lockern, wollten viele Ministerpräsidenten erkennbar dem Eindruck entgegenwirken, sie gingen immer nur so weit, wie es Angela Merkel erlaubte.

Zwischen Magdeburg und Düsseldorf oder zwischen Hannover und Wiesbaden war plötzlich kein Halten mehr. Manche Ministerpräsidenten, die sich nun über Ramelow echauffieren, beklagen nur die logische Konsequenz einer Entwicklung, die sie selbst herbeigeführt haben. Andere werden bald folgen müssen. Ein Föderalismus à la carte macht sich breit, der das eigene Solo zur verantwortungsvollen und weitsichtigen politischen Großtat stilisiert, das Verhalten anderer Ministerpräsidenten aber zum rücksichtslosen Alleingang.

Manch einem Regierungschef mag es sogar gelegen kommen, dass sich alle nun über Ramelow aufregen. Es könnte sonst auch sie treffen: Liegt das Restaurant, von dem aus sich eine Kette mit mindestens 18 Infektionen auffädelte, nicht in Niedersachsen, wo der Ministerpräsident Stephan Weil unbedingt als erster die Öffnung der Gastronomie verkünden wollte? Liegt die Baptisten-Gemeinde, in der sich weit über hundert Menschen angesteckt haben, nicht in Hessen, dessen Ministerpräsident Volker Bouffier bei Großveranstaltungen besonders großzügig sein will?

Deutschland befindet sich in einer merkwürdigen Zwischenphase. Die größte Gefahr scheint vorerst überstanden zu sein. Doch der Erfolg der Corona-Bekämpfung ist Segen und Fluch zugleich, weil die positive Entwicklung auch den riskanten Drang nach alter Normalität erhöht. Die Kanzlerin, die in der Hochphase der Virus-Verbreitung eine Fernsehansprache und zwei, bisweilen sogar drei Pressekonferenzen pro Woche für geboten hielt, hat sich aus der Corona-Innenpolitik zurückgezogen und den Ministerpräsidenten das Feld überlassen. Mit dieser auffallenden Absenz leistet Merkel allerdings auch selbst dem Eindruck einer Entdramatisierung der Lage Vorschub, der mit ihrer Vorsicht der Anfangszeit nur schwer in Einklang zu bringen ist.

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