Süddeutsche Zeitung

Aufgaben:Viele Versprechen und eine Quadratur des Kreises

Klima, Digitalisierung, Umbau des Sozialsystems - nicht nur das: Die neue Regierung hat sich einiges auch darüber hinaus vorgenommen.

Von Markus Balser, Constanze von Bullion, Paul-Anton Krüger und Henrike Roßbach

Klima, Digitalisierung, Umbau des Sozialsystems - nicht nur das hat sich die neue Koalition an Projekten vorgenommen. Es gibt noch weitere Großbaustellen. Eine Auswahl:

Innere Sicherheit

Die neue Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte ihren Amtseid noch nicht gesprochen, als sie bei ihrer Berufung am Montag schon ankündigte, was ihre wichtigste Aufgabe wird: den Rechtsextremismus in Deutschland zu bekämpfen. Er sei die größte Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Als Oppositionsführerin in Hessen hatte sie den NSU-Terror in einem Untersuchungsausschuss des Landtags mit aufgearbeitet. Sie weiß, wie schwer der Kampf wird. Bei einer Rede im Landtag warnte sie Anfang des Jahres eindringlich: "Wehret den Anfängen", hätten sie in ihrer Jugend gesagt. "Heute, muss ich sagen, ist es dafür viel zu spät."

Schon die jüngsten Zahlen des Verfassungsschutzes machen klar, wie groß das Problem in Deutschland längst ist. Insgesamt zählt der Inlandsgeheimdienst 33 300 Rechtsextreme in Deutschland. So viele wie noch nie. Davon hält der Verfassungsschutz 13 300 Menschen für "gewaltorientiert". Hinzukämen etwa 20 000 sogenannte Reichsbürger oder Selbstverwalter, auch sie hätten im Corona-Jahr einen Zuwachs um etwa fünf Prozent erreicht. Mehr als 200 Menschen wurden seit 1990 in Deutschland von Rechtsextremen umgebracht. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Rechtsextremisten im Juni 2019 führte dem ganzen Land vor Augen, wie gefährlich die Szene ist.

In diesen Tagen beobachten Ministerien und Verfassungsschützer mit Sorge, dass sich auch die Proteste gegen härtere Anti-Corona-Maßnahmen radikalisieren. Rechtsextremisten spielten dabei eine wichtige Rolle, warnen Behörden. Vergangene Woche forderten die Landesinnenminister bereits von der neuen Regierung, schnell stärker gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen und etwa den Nachrichtendienst Telegram strenger zu überwachen. Nötig sei nun ein ganzes Bündel von Maßnahmen, heißt es auch aus den Regierungsparteien. Es gehe um mehr Prävention, aber auch Repression durch härtere Strafen.

Außenpolitik

In der Außenpolitik wird der Start der Ampel vorhersehbar ruppig. Jede weitere Eskalation zwischen Russland und der Ukraine würde den ohnehin großen Druck wachsen lassen, der umstrittenen russischen Erdgaspipeline Nord Stream 2 ein Ende zu machen. Das könnte sich auf das Verhältnis von Kanzler Olaf Scholz und seiner Außenministerin auswirken: Annalena Baerbock hält das Projekt wie die Grünen insgesamt für falsch, die SPD hat es bisher eisern verteidigt.

Beim G-7-Außenministertreffen am Wochenende wird sich Baerbock deutliche Kritik anhören müssen. Eine Bombe ist das Thema auch im Verhältnis zu den USA: Dort drängt der Kongress Präsident Joe Biden zu Sanktionen - sie werden unvermeidlich, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin losschlägt. Pikiert haben die Grünen in diesem Zusammenhang die Ansage von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich quittiert, dass "eine kluge deutsche Außenpolitik insbesondere im Kanzleramt gesteuert" wird.

Das kann durchaus auch als Wink zum Umgang mit China gelten. Baerbock hat die Devise ausgegeben, dass angesichts der Menschenrechtsverletzungen "beredtes Schweigen auf Dauer keine Form von Diplomatie" ist. Die chinesische Botschaft sah sich durch das Interview in der taz veranlasst, der neuen Bundesregierung "unsere gemeinsamen Interessen" in Erinnerung zu rufen und eine "ganzheitliche" Betrachtung der Beziehungen anzumahnen - die sind vor allem für die deutsche Wirtschaft nicht unbedeutend, so der Subtext. An der Frage indes, ob sich Deutschland dem politischen Olympiaboykott der USA anschließt, wird die Ampel nicht vorbeikommen. Auch eine Krise am Golf steht zu befürchten. An diesem Donnerstag werden die Nuklearverhandlungen mit Iran in Wien fortgesetzt. Sie könnten noch vor Weihnachten platzen, wenn Teheran bei seiner harten Haltung bleibt. Dann läge das Atomabkommen in Trümmern, das Berlin als Ausweis der Kraft multilateraler Diplomatie gilt.

Asyl und Einwanderung

Asylbewerber, die zum Nichtstun gezwungen sind, in Serie gescheiterte Abschiebungen, Rechtsbruch an den EU-Außengrenzen - die Bundesregierung will das Chaos in der Migrationspolitik beenden. Kern des Anliegens ist es, berechtigte Asylbegehren klarer von unberechtigten zu trennen, Deutschland für zusätzliche Arbeitskräfte zu öffnen und Integration zu erleichtern. Das ist anspruchsvoll.

Zum "Paradigmenwechsel", den die Koalition ankündigt, zählt die erleichterte legale Einwanderung. Resettlement-Programme, bei denen gezielt besonders bedürftige Geflüchtete ins Land geholt werden, sollen ausgebaut werden. Geduldete, die seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur Verfassung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis bekommen, auf Probe. Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus sollen Angehörige leichter nachholen können. Mehrfachstaatsangehörigkeit wird erlaubt.

"Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende schaffen wir ab", heißt es im Koalitionsvertrag - ein bislang nie gekanntes Diktum. Auch ohne sicheren Aufenthaltsstatus sollen Asylbewerber bei Wohlverhalten arbeiten dürfen, ein sogenannter "Spurwechsel". Jahrelanges Nichtstun, davon sind SPD, Grüne und FDP überzeugt, schade der Integration. Opfer familiärer Gewalt sollen rechtlich bessergestellt und Qualifikationsmaßnahmen für Migranten verstärkt werden. Von einem Punktesystem, das Integrationserfolge belohnt, ist nicht mehr die Rede.

Aber auch eine "Rückführungsoffensive" ist geplant. Straftäter und extremistische Gefährder will die Regierung konsequenter abschieben - ein Vorhaben, an dem schon Horst Seehofer scheiterte. Außerdem sollen mit wichtigen Herkunftsländern neue Rückführungsabkommen geschlossen werden. Dabei will die Regierung prüfen, ob Asylbewerber vorübergehend in Drittländern untergebracht werden können, gegen Visa-Erleichterungen etwa. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden.

Schuldenbremse

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bekommt sein neues Amt erst an diesem Donnerstag offiziell übergeben - was daran liegt, dass sein Vorgänger der neue Kanzler ist, und Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch, dem Tag seiner Wahl und Vereidigung, reichlich beschäftigt war. Was auf Lindner zukommt, ist aber klar. Der Koalitionsvertrag der Ampel steckt voller teurer Projekte, gleichzeitig haben SPD, Grüne und FDP sich darauf verständigt, weder die Steuern zu erhöhen noch die Schuldenbremse aufzuweichen. Die soll im kommenden Jahr pandemiebedingt ausgesetzt bleiben, 2023 aber wieder greifen.

Lindners erste Aufgabe wird deshalb ein Nachtragshaushalt sein, der schon kommende Woche in den Bundestag eingebracht werden muss. Geplant ist, bislang nicht genutzte Kreditermächtigungen, die eigentlich für die Pandemiebekämpfung gedacht waren, umzuwidmen. Bis zu 50 Milliarden Euro sollen auf diese Weise in den Energie- und Klimafonds verschoben werden. Im Koalitionsvertrag heißt es zu dieser Haushalts-OP: "Wir werden im Haushalt 2021 Mittel aus bereits veranschlagten und nicht genutzten Kreditermächtigungen über einen Nachtragshaushalt dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) zweckgebunden für zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Transformation der deutschen Wirtschaft zur Verfügung stellen." Experten haben allerdings Bedenken angemeldet, ob Anti-Pandemie-Mittel einfach so umetikettiert werden können. Die Koalitionäre wollen sich um diese Klippe offenbar herummogeln, indem sie im Koalitionsvertrag schreiben, mit dem Geld sollten die "Folgen der Corona-Pandemie und die zeitgleich bestehenden Risiken für die Erholung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen durch die weltweite Klimakrise" bekämpft werden - und Investitionen nachgeholt werden, die wegen der Pandemie ausgefallen waren.

Mildern will die Koalition ihre Finanzprobleme außerdem, indem die Pandemieschulden langsamer getilgt werden und staatliche Gesellschaften wie die Bahn, die Staatsbank KfW oder die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben bessere "Finanzierungsmöglichkeiten" bekommen. Das liefe dann außerhalb der Schuldenbremse.

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