Süddeutsche Zeitung

Aufarbeitung von Konflikten in Kenia:Angst vor dem Wahlkampf

Sie gingen mit Waffen aufeinander los: Vor fünf Jahren starben bei ethnischen Unruhen in Kenia mehr als 1100 Menschen, Hunderttausende wurden vertrieben. Die Aufarbeitung des Konflikts stockt und die Furcht wächst, dass die Politiker vor der nächsten Wahl den Hass wieder schüren.

Tobias Zick

"Zakaria, komm raus", riefen sie; einige der Stimmen kannte er, es waren seine Nachbarn - Leute, von denen er geglaubt hatte, sie seien so etwas wie Freunde. Er versteckte sich hinter dem Haus, dann hörte er, wie sie die Tür eintraten. Im Dunkel der Nacht flüchtete er auf die andere Seite des Flusses. Von dort aus sah er am nächsten Morgen, wie Männer von den Hügeln hinabstürmten, die Oberkörper nackt, sie hieben mit Buschmessern auf jene ein, die es nicht rechtzeitig über den Fluss geschafft hatten. Zakaria schaute zu, wie sein Haus in Flammen aufging, und die Polizisten taten nichts als in die Luft zu schießen. "Das Werk geht voran", sagte ein Beamter zu ihm, "wenn ihr wollt, dass das hier aufhört, dann sagt eurem Präsidenten Kibaki, er soll seinen Platz räumen."

Das war alles von langer Hand vorbereitet, das wird mir immer klarer", sagt Zakaria, 42 Jahre alt, ein schmaler Mann in zu weitem Anzug, die Augen leicht gerötet. Er kauert in einer Lehmhütte mit Wellblechdach, die jetzt sein provisorisches Zuhause ist. Sein Nachname soll nicht in der Zeitung stehen, er hat Angst, sie könnten ihm wieder nachstellen. Das Ganze ist zwar fünf Jahre her, doch die nächste Wahl naht.

Die Lehmhütte, eine von mehreren Dutzend, steht in einer Bilderbuchlandschaft mitten im Großen Afrikanischen Grabenbruch, auch als "Wiege der Menschheit" bekannt. Schirmakazien im Abendlicht, dahinter ein erloschener Vulkankegel; für die durchreisenden Safaritouristen das perfekte Afrika-Idyll. Die Hütten sind ein Relikt aus jenen Tagen, als das in Europa gehegte Image von Kenia als politisch unauffälligem Löwen- und Zebra-Idyll zerschellte.

Ein Fotoband dokumentiert Gräueltaten

Ein Fotoband vermittelt eine Ahnung dessen, was zur Jahreswende 2007/2008 geschah: Bewaffnete, die auf den Kopf eines Menschen am Boden eintreten. Soldaten, die einen Plastiksack über eine verkohlte Leiche ziehen. Horden, die mit Pfeil und Bogen einen Hang hinabpirschen. Das Gesicht eines jungen Mannes, in dessen Oberkiefer eine Speerspitze steckt. Eine abgehackte Hand auf einem Stein. Angehörige verschiedener Ethnien, die bis dahin friedlich miteinander gelebt hatten, gingen mit Buschmessern, mit Brandsätzen, mit Pfeil und Bogen aufeinander los, mehr als 1100 Menschen starben, Hunderttausende wurden vertrieben, etliche von ihnen sind bis heute nicht zurückgekehrt.

Die Gewalt eskalierte, als sich nach der Präsidentenwahl Ende Dezember zwei Kandidaten zu Siegern erklärten - und sich damit die Vertreter zweier der größten unter den 42 Ethnien Kenias feindlich gegenüberstanden. Mwai Kibaki, der amtierende Präsident vom Volk der Kikuyu, ließ sich erneut vereidigen; Raila Odinga, vom Volk der Luo, beschuldigte ihn der Wahlfälschung. Was daraufhin losbrach, ging unter dem Schlagwort "Nachwahlunruhen" durch die Medien - doch der Begriff spiegelt allenfalls die halbe Wahrheit wider, denn die Gewalt bahnte sich schon viel früher an. Und es ging um mehr als nur um ein Wahlergebnis.

"Es ging um Macht und um Land", sagt Zakaria, "und es begann schon Monate vor den Wahlen. Wie an jenem Tag, als sie uns als Unkraut beschimpften." Er selbst hörte, wie Wahlkampfredner die Massen in seiner Heimatstadt aufhetzten, 200 Kilometer von hier: "Reißt das Unkraut raus." Gemeint waren die Kikuyu, die vermeintlich unrechtmäßig das Land bewohnten, das vielmehr den Kalenjin zustünde, einem mit den Luo verbündeten Volk. "Sie sagten: Wenn ihr zulasst, dass diese Leute hier bleiben, auf dem Land eurer Vorfahren, dann werden sie bald über euch herrschen. Wollt ihr das?" Die Wurzeln des Konflikts, den die Redner da für ihre Zwecke aufrissen, reichen tief in die koloniale Vergangenheit Kenias: Weiße Siedler hatten Land von den Kalenjin besetzt, und nach der Unabhängigkeit 1963 verteilte der erste Präsident Jomo Kenyatta, ein Kikuyu, große Teile davon bevorzugt an Mitglieder seiner eigenen Ethnie.

Die Menschen sollen erneut umgesiedelt werden

In einem Bus brachten die Behörden Zakaria schließlich hierher, in dieses Lager nahe der Kleinstadt Mai Mahiu; es war eine Zeltstadt, inzwischen leben knapp 150 Familien in Lehmhütten. Seine Frau, den Kopf mit einem geknoteten Tuch bedeckt, gräbt in einem schmalen Gemüsebeet, Hühner scharren, aus einem Verschlag blickt schnüffelnd ein Kaninchen. Es ist eine kleinbäuerliche Existenz, die sie sich hier aufgebaut haben. Daheim in Eldoret betrieb Zakaria ein kleines Geschäft, von Landwirtschaft hatte er keine Ahnung, aber in Seminaren von einer Hilfsorganisation lernte er, wie man Spinat anbaut und Hühner züchtet. "Und jetzt wollen sie uns das auch wieder wegnehmen."

Ursprünglich hatte die Regierung angekündigt, allen Vertriebenen die Rückkehr an ihre Herkunftsorte zu ermöglichen. Jetzt gibt es Pläne, die Menschen hier auf Dauer in eine entlegene Gegend irgendwo im Hochland umzusiedeln. "Das würde bedeuten, dass wir erneut vertrieben werden", sagt Zakaria. Einige Politiker, vermutet er, wollen sich das Geld aus den Umsiedlungs-Etats in die eigene Tasche stecken, "und sie sind auf das fruchtbare Land hier scharf. Aber wir bleiben. Hier haben wir inzwischen Wasser und Strom, eine Grundschule, wir haben Bäume gepflanzt. Dort oben ist nichts dergleichen."

Und zurück nach Eldoret, auf einen Neuanfang in der alten Heimat? Zakaria schnaubt, schüttelt den Kopf. "Wer garantiert uns denn, dass wir dort sicher sind?" Es ist ein dünner Frieden, der seit 2008 über Kenia liegt. Inmitten der Unruhen eilte der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan nach Kenia, um zu vermitteln; die beiden Rivalen bildeten schließlich gemeinsam eine Regierung, Kibaki als Präsident, Odinga als Premierminister. Inzwischen hat das Land eine neue Verfassung und mehrere staatliche Stellen, die für die Aufarbeitung des nationalen Traumas zuständig sind.

Doch sehr vieles ist längst nicht aufgearbeitet, wird verschleppt. Eine Kommission für Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung hätte schon längst ihren Bericht über die Hintergründe der Gewaltwelle und ihre Anstifter vorlegen sollen - doch die Veröffentlichung wird auf Betreiben von Politikern immer wieder aufgeschoben. Die Chancen, dass der Bericht noch, wie geplant, vor der nächsten Wahl öffentlich wird, schwinden. Die Wahl ist für März 2013 angesetzt. "Wir haben Angst vor dem Termin", sagt Zakaria.

Menschenrechtsorganisation geißelt Versagen von Politik und Justiz

An der Wand hinter ihm hat er ein buntes Poster aufgehängt, es ist ein Wandkalender, gestaltet von einer örtlichen Druckerei: oben ein Foto des früheren Chefanklägers am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Luis Ocampo, der 2008 zu ermitteln begann, nachdem die kenianische Justiz selbst nicht in Aktion trat; darunter die Gesichter der sechs anfangs Beschuldigten. Gegen vier von ihnen hat das Gericht inzwischen Anklage erhoben. "Schön und gut, dass Den Haag gegen die vier ermittelt", sagt Zakaria, "aber die haben doch nicht eigenhändig all unsere Häuser angezündet." Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geißelt das Versagen von Politik und Justiz bei der Ahndung der damaligen Verbrechen: "Polizeibeamte, die mindestens 405 Menschen getötet, mehr als 500 verletzt und Dutzende Frauen und Mädchen vergewaltigt haben, genießen absolute Straflosigkeit."

Unter diesen Rahmenbedingungen bereitet sich das Land auf die kommende Wahl vor, und zwei der Männer, die in Den Haag angeklagt sind, wollen selbst für die Präsidentschaft kandidieren: Uhuru Kenyatta, amtierender Vizepräsident und Sohn des Republikgründers Jomo Kenyatta, und William Ruto, ehemaliger Agrar- und Bildungsminister. Der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel, dessen Ressort verschiedene Projekte zur Aufarbeitung der Gewalt unterstützt, hat kürzlich bei einem Besuch in der Region gewarnt: "Wir glauben an die Unschuld, bis das Gegenteil bewiesen ist. Aber es könnte sich eine sehr schwierige Situation ergeben, wenn das Land einen Präsidenten wählt, der sich dann später in einem Prozess verantworten muss und schuldig gesprochen wird."

Ein Dorf namens Kiandege, wenige Minuten von Naivasha entfernt. Im staubigen Innenhof der katholischen Kirche hängt ein Banner mit dem Slogan: "Wir sind verschieden - mit Frieden werden wir eins." Eine Tanzgruppe tritt auf die Bühne, einige der Männer tragen Federn im Haar, andere knöchellange Röcke; es sind Angehörige verschiedener Ethnien, die ihre Tänze zu einer gemeinsamen Choreografie verschmelzen lassen, zum abschließenden Trommelwirbel skandieren alle gemeinsam: "Karibu!" - "Willkommen" auf Swahili, der gemeinsamen Landessprache.

Ziel ist eine gemeinsame Wahrheit

Am Rand sitzt eine Frau mit dunklem Anzug und glänzenden Locken und filmt die Szene mit ihrem iPad. "Solche Projekte sind sehr wichtig, um das Eis zu brechen, die Menschen ins Gespräch zu bringen", sagt sie, "aber sie sind eben nicht mehr als ein Anfang." Sie heißt Milly Lwanga, ist Juristin und eines von neun Mitgliedern der Nationalen Kommission für Kohäsion und Integration, die ethnische Diskriminierung ahnden und den "nationalen Zusammenhalt" fördern soll. "Die Kenianer müssen sich auf eine gemeinsame Wahrheit einigen", sagt sie. Eine Wahrheit, in der gemeinsam anerkannt wird, wer wen zu welchen Verbrechen angestachelt hat; eine Wahrheit, die nicht von gekauften oder verdrehten Erzählungen überschattet ist. "Ohne eine solche Basis wird es leicht möglich sein, die Menschen wieder gegeneinander aufzuhetzen."

Eine gemeinsame Wahrheit etablieren - ein ehrgeiziges Vorhaben, zumal angesichts des Zeitrahmens: Gerade mal ein halbes Jahr noch bis zur nächsten Wahl. Unterdessen ermittelt Milly Lwanga gegen sogenannte "Hassreden". Inzwischen gibt es sogar eine Hotline, unter der Bürger per SMS kostenfrei Hinweise an die Kommission übermitteln können, wenn Politiker oder deren Unterstützer gegen Angehörige anderer Ethnien hetzen. Gerade haben sie Anklage gegen drei prominente Musiker erhoben, die in ihrer Muttersprache Kikuyu Parolen gesungen hatten, die einige Zuhörer als verbrämte Anstachelung zum Hass interpretiert hatten. "Die Täter verwenden immer öfter verklausulierte Formulierungen", sagt Milly Lwanga, ihre Ermittlungen werden deshalb immer mehr zur Sisyphos-Aufgabe; für solche Fälle stellt die Kommission Experten-Teams zusammen, in denen Muttersprachler der jeweiligen Ethnie die Reden analysieren.

Man muss allerdings nicht erst allzu tief in die metaphorische Interpretation von Songtexten einsteigen, um zu erkennen, dass die Ängste vor einer neuen Gewaltwelle sich zu einer immer konkreteren Drohkulisse verfestigen. Seit Anfang des Jahres seien schon 200 Menschen aus politischen Gründen gestorben, erklärte kürzlich das kenianische Rote Kreuz. In den Straßen der Küstenstadt Mombasa kämpften diese Woche Demonstranten gegen die Polizei, nachdem am Montag Unbekannte einen islamischen Geistlichen erschossen.

Streit um Wasser und Land fordert erneut Opfer

Vergangene Woche starben 52 Menschen in Tana River, einem entlegenen Distrikt im Südosten des Landes, nachdem sich ein Streit zwischen zwei ethnischen Gruppen um Land und Wasser aufgeschaukelt hat. Auch dort ermittelt Milly Lwanga, inwieweit die Menschen gezielt aufgehetzt worden sind; oft steckt in derartigen Fällen etwa das Kalkül von Politikern, die ihre Mehrheit festigen wollen: Angehörige einer anderen Ethnie, die vertrieben werden, tragen sich nicht mehr im örtlichen Wählerregister ein.

Solange eine zentrale Frage nicht gelöst ist, sagt Milly Lwanga, werden sich rivalisierende Politiker immer wieder zu solch makabren Schachzügen ermutigt fühlen: die Situation der Vertriebenen wie Zakaria. "Die Regierung hat ihr Versprechen nicht ansatzweise eingelöst, diese Menschen an ihren Ursprungsorten wieder anzusiedeln und zu integrieren", sagt sie. "Die jetzige Lage vermittelt die klare Botschaft: Man kann in Kenia Menschen von ihrem Land vertreiben - und auf Dauer damit durchkommen."

Das sieht Zakaria ganz ähnlich: "Es heißt, wir sollen den Tätern vergeben, uns miteinander versöhnen. Schön und gut, aber wie sollen wir uns mit Leuten versöhnen, die uns in diese Lager hier vertrieben haben - während sie selbst weiterhin in ihren Häusern wohnen?"

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Quelle:
SZ vom 01.09.2012/kaj
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