Im Herbst 2015 begegnen sich im Revier zwei Männer, von denen einer nur so tut, als sei er zum Morden entschlossen. Der andere ist der Tunesier Anis Amri. Als Asylbewerber ist er vor Kurzem aus Italien gekommen und hat bei der Polizei in Krefeld gleich einen "Prüffall Islamismus" ausgelöst, weil er auf seinem Mobiltelefon offenbar Bilder von IS-Kämpfern hat. Er wolle "hier" etwas "machen" hat Amri gesagt. "Hier" war offenbar Deutschland.
Sein Gesprächspartner redet davon, er wolle nach Syrien oder in den Irak, um sich dort dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Mit einem Islamisten, der sich auskennt, hat er schon Einzelheiten besprochen. Für den Kampf aufseiten des IS würde man einige Hundert Dollar bekommen, habe der Islamist gesagt.
Amri und sein Bekannter reden auch über den Dschihad. In Syrien und wo auch immer. Was Amri nicht weiß: Sein Gesprächspartner ist kein Islamist, er will auch nicht nach Syrien. Er ist eine Vertrauensperson (VP) der Polizei. Der Staatsschutz des Landeskriminalamts in Düsseldorf hat ihn im Juli in die salafistische Szene eingeschleust, die nirgends größer ist als in Nordrhein-Westfalen.
Muss man einem V-Mann immer misstrauen?
Die VP, der von den Behörden die absolute Geheimhaltung seiner Identität zugesichert wurde, heißt bei den Staatsschützern nur VP-01. Die Quelle sprudelt. VP-01 berichtet der Polizei fortan immer wieder über Amri und all die anderen, die sich da draußen tummeln und vom Krieg schwärmen. Er wirkt so echt, dass ihm einer der IS-Ideologen sogar eine Frau vorstellt, eine Bulgarin mit drei Kindern, die erst in Recklinghausen, dann in Gelsenkirchen lebte, aber unbedingt einen Mann heiraten will, der mit ihr nach Syrien zieht: "Nachdem sie sich vorgestellt und wir geredet haben, ist sie auch wieder gegangen", sagt er.
Vieles, was in diesen Tagen in amtlichen Papieren über den Attentäter Amri, der vor Weihnachten in Berlin zwölf Menschen ermordete, berichtet wird, haben die Beamten von der Quelle erfahren. Warum haben seine Berichte, die in anderen Fällen durchaus zu Konsequenzen führten, nicht auch im Fall Amri Folgen gehabt? Muss man so einem immer misstrauen? Ein V-Mann ist ein Mann, dem man nicht vertrauen kann, sagen Kritiker gern.
In Berlin und in Düsseldorf beschäftigen sich die Parlamente in dieser Woche mit dem Fall Amri. Berichte sollen vorgelegt, Fragen beantwortet werden. Ob es eine "Woche der Wahrheit" geben wird, wie eine Sonntagszeitung meinte, ist ungewiss. In diesem Fall scheint die Wahrheit ohnehin eher im Plural vorzukommen. Der Gang der Handlung ist verschachtelt und verfilzt, dunkel und verworren.
Natürlich beflügelt schon die bloße Existenz von VP-01 die Fantasien. Da wurde die Frage aufgeworfen, ob Amri nicht sogar selbst ein V-Mann gewesen sei. Nichts spricht nach bisherigem Stand für diese Theorie. Bundesbehörden und NRW haben dementiert. Alle Landesbehörden des Verfassungsschutzes haben sich gegenseitig versichert, dass Amri kein V-Mann war. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, dass Amri jemals angeworben werden sollte.
Problematisiert wird jetzt sogar, dass der V-Mann einen berüchtigten Islamisten aus der Ruhrgebiets-Szene und Amri in seinem Auto mitgenommen hat. Am 12. Februar 2016 beispielsweise. Wo ist das Problem? VP-01 sollte möglichst viel über Pläne, Absichten der Verdächtigen erfahren, und das ging nur, wenn er mit ihnen redete, mit ihnen zusammen war. Im Auto, in Moscheen, in Wohnungen, in Kellern oder schäbigen Mansarden.
Er bekam ständig neue Aufträge. Beispielsweise "Einsatztag: Mittwoch 23.09. 2015: "Gegen 18.30 Uhr suchte ich die Moschee auf der Rüsingstraße in Bochum auf. Es waren etwa 20 bis 30 Gläubige anwesend". Ein Mustafa aus Dinslaken sei "auch total radikal eingestellt".
Alles, was VP-01 erfuhr, wurde begierig von der Polizei, vom Staatsschutz aufgenommen. Die Quellenvernehmungen füllen Ordner. Zeitweise war VP-01 einer der wichtigsten Quellen des deutschen Staatsschutzes in der islamistischen Szene.
Am Freitag verschickte das Bundeskriminalamt (BKA) einen 18-seitigen vertraulichen Bericht mit dem etwas umständlichen Titel "Aufarbeitung der polizeilichen Befassung mit der Person Anis Amri" an Bundes- und Landesbehörden sowie an den Generalbundesanwalt in Karlsruhe, der das Amri-Verfahren betreibt.
Schon auf Seite eins des Papiers, das der Süddeutschen Zeitung, WDR und NDR vorliegt, wird unter der Datumszeile 19. November 2015 über Erkenntnisse der VP, dass ein "Anis" was vorhabe, berichtet. Daraufhin ließ der Generalbundesanwalt das Telefon von "Anis"abhören.
Sechs Tage später wird berichtet, "Anis" habe gegenüber der VP behauptet, er könne "problemlos eine Kalaschnikow in Napoli" besorgen. "Anis" mache den Eindruck, dass er "unbedingt für seinen Glauben kämpfen" wolle. Am 3. Dezember weiß die VP noch mehr: "Anis" habe erklärt, er wolle in Paris Kalaschnikows kaufen, um damit Anschläge in Deutschland zu begehen.
Wer war dieser "Anis"? Der Nachname Amri war zu diesem Zeitpunkt den Behörden noch nicht bekannt. Sie kannten nur den Vornamen, den der Tunesier der Quelle genannt hatte. Als "Mohamed Hassa" war Amri in Deutschland eingereist. Eine von 14 Identitäten, die er verwendet hat, wie sich in diesen Tagen herausstellte.
"Anis aus Dortmund und Kontaktpersonen in Berlin" wurde der bekannte Unbekannte in amtlichen Vermerken umschrieben. Ende 2015 klärten italienische Staatsschützer die deutschen Kollegen auf. "Anis" heiße mit Nachnamen Amri, geboren 22. Dezember 1992 in Tunesien, und hatte vier Jahre in italienischer Haft gesessen. Die Italiener schickten Fotos.
Viele Landes- und Bundesbehörden beschäftigten sich mit dem Mann, und das BKA etwa hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass Amri einen Anschlag begehen werde: "Gefährdendes Ereignis ist eher auszuschließen."
Dann teilte VP-01 mit, dieser Amri finde "Tötungen von Ungläubigen" gut.
Diverse Behörden ermittelten, observierten, hörten Amri ab. Er pendelte zwischen NRW und Berlin. "Person ist dem islamistischen Spektrum zuzuordnen, mutmaßlich Bezug zum IS, intensive Kontrolle der Person, mitgeführter Gegenstände und Begleiter, Feststellung der Reiseroute." Solche Feststellungen waren das übliche Resultat von Diskussionen über Amri.
Anfang Februar 2015 wurde Amri von den Behörden in NRW als "Gefährder" eingestuft. Aber war er eher gefährlich oder eher ein Maulheld? Und was war mit der Quelle? Ein Vertreter des BKA meinte, dass die Quelle zwar zutreffend zu wichtigen Personengeflechten in der islamistischen Szene berichte, aber man solle bei der Frage nach der Wichtigkeit der Quelle auch nicht übertreiben: So bestünden "erhebliche Zweifel" an der Belastbarkeit von Aussagen, was einen angeblich geplanten Anschlag von Amri mittels Schnellfeuergewehren angehe. Ein BKA-Beamter notierte in einer der vielen Amri-Runden, die es in Berlin gegeben hat, spitz: Diese VP sei schon in einem anderen Fall mit "Exklusivwissen" in Erscheinung getreten.
Exklusiv bedeutet gewöhnlich: Da war nichts. Im Februar 2016 fiel der VP auf, dass sich Amri immer mehr verändere. Er sei nun sehr zurückgezogen, lese viel im Koran. So habe er ihn noch nicht erlebt. Offenbar wolle er mit sich ins Reine kommen, wie es manchmal Selbstmordattentäter machen. Auch berichtete die Quelle, Amri habe über einen Anschlag mit einem Sprengstoffgürtel geredet. Wenn man all diese Hinweise, Vermutungen heute liest, könnte man glauben, dass doch alles klar gewesen sei. Aber war wirklich alles klar?
Bei der Rückschau spielen Abläufe in Berlin eine große Rolle. Amri hat sich dort lange Zeit aufgehalten. Von März bis September lief ein Verfahren der dortigen Generalstaatsanwaltschaft gegen ihn. Er wurde abgehört, observiert und fiel nicht durch Anschlagsplanungen, sondern durch Drogenkleinsthandel auf. "Religiöse Fragen" sogar während des Ramadans seien bei ihm in den Hintergrund getreten, heißt es in dem BKA-Report.
Er wollte Deutschland verlassen, möglicherweise Richtung Heimat, Tunesien. Er wurde gestoppt, kam zurück, nahm selbst Drogen wie Kokain oder Ectasy, besuchte ganz selten noch Moscheen.
"Auch das wichtige Morgengebet und die rituelle Schlachtung zum religiös wichtigen Opferfest Mitte September" hätten ihn nicht mehr interessiert. War er vielleicht sogar ungläubig geworden? "Hinweise auf eine Planung von religiös motivierten Gewalttaten ergaben sich im Verlauf der Maßnahmen nicht. Es entstand der Eindruck eines jungen Mannes, der unstet, sprunghaft und nur wenig gefestigt erscheint." Das Verfahren wurde eingestellt. Falsch war es, danach einen Gefährder aus dem Blick zu verlieren und nicht dafür zu sorgen, dass er in Haft kam und nach Tunesien abgeschoben wurde.