Süddeutsche Zeitung

Atomwaffen:Fragiles Gleichgewicht der Abschreckung

Lesezeit: 3 min

Die USA und Russland loten aus, ob sie ihren nuklearen Arsenalen neue Grenzen setzen. Die Erfolgsaussichten sind ungewiss - auch weil eine dritte Macht womöglich drastisch aufrüstet.

Von Paul-Anton Krüger, München

Ein Globus trennte die Präsidenten der einstigen Supermächte bei ihrem Gipfeltreffen in Genf Mitte Juni - eine subtile Erinnerung an die Verantwortung, die Joe Biden und Wladimir Putin tragen als Gebieter über die größten Atomarsenale der Welt. War ihre erste Begegnung als Staatschefs in vielen Bereichen ein Austausch von Positionen, bekräftigten sie in einer gemeinsamen Erklärung, dass "ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf".

Nun, sechs Wochen später, sollen Spitzendiplomaten diese von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1985 ebenfalls in Genf geprägte Formel mit Leben erfüllen. Mit einem Treffen, natürlich in Genf, nahmen am Mittwoch die US-Vizeaußenministerin Wendy Sherman und ihr russischer Kollege Sergej Riabkow den Dialog über strategische Stabilität auf, den ihre Präsidenten vereinbart haben. Die beiden sind Veteranen der Rüstungskontrolle und kennen einander auch persönlich sehr gut.

Das alles sind bessere Voraussetzungen als unter dem früheren US-Präsidenten Donald Trump, der mehrere Abkommen kündigte und sich erst zum Ende seiner Amtszeit noch schnell mit einer Verlängerung des New-Start-Vertrages zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen zum Staatsmann adeln wollte. Es blieb aber dann Biden überlassen, diese letzte verbliebene Säule der Rüstungskontrolle mit Putin um fünf Jahre zu verlängern.

Doch sind die Differenzen groß. "Binnen der nächsten sechs Monate bis einem Jahr werden wir wissen, ob wir tatsächlich einen strategischen Dialog führen, der eine Bedeutung hat", sagte Biden in Genf - ein Scheitern ist also keinesfalls ausgeschlossen. Das sieht man in Moskau ähnlich. Es sei "zu früh, um über die Erfolgsaussichten zu sprechen", sagte Riabkow.

Die Amerikaner wollen erreichen, dass künftige Vereinbarungen zur atomaren Abrüstung "alle russischen Atomwaffen einschließen", wie es aus dem US-Außenministerium hieß. Gemeint sind damit sogenannte taktische Nuklearwaffen, von denen Russland Tausende besitzt. Sie gelten den Amerikanern und vor allem den osteuropäischen Nato-Verbündeten als besonders bedrohlich. Denn sie sind zum Einsatz auf dem Gefechtsfeld vorgesehen - die Schwelle liegt somit niedriger als bei einem Schlagabtausch mit strategischen Waffen.

Hyperschallgleiter könnten die Raketenabwehr durchbrechen

Beispiele sind nuklear bestückte Anti-Schiffsraketen oder Bomben, die von Kampfjets gegen militärische Verbände eingesetzt werden könnten. Damit verbindet sich die Sorge, der Kreml könne solche Waffen nutzen, um einen begrenzten konventionellen Krieg in Europa zu entscheiden. Auch wollen die USA eingelagerte Sprengköpfe einbeziehen. Diese sind zwar nicht unmittelbar einsatzbereit, würden es Russland aber im Krisenfall erlauben, sein Arsenal binnen weniger Monate erheblich zu vergrößern.

"Wir haben vor, offen und direkt gegenüber den Russen zu sein, um klarzustellen, was die USA als Bedrohungen für das aktuelle Sicherheitsumfeld und für die Zukunft sehen", hieß es aus dem US-Außenministerium weiter - ein Verweis auf futuristische Trägersysteme, die Putin entwickeln lässt, wie nuklear angetriebene Torpedos und Marschflugkörper. Vor allem aber sind damit sogenannte Hyperschallgleiter gemeint, die mit mehr als der fünffachen Schallgeschwindigkeit fliegen und in der Lage sein sollen, Raketenabwehrsysteme auszumanövrieren.

Diese wiederum sind aus Perspektive des Kreml ein zentrales Problem: Jede neue Vereinbarung müsse Beschränkungen für die US-Raketenabwehr enthalten, heißt es dort. Russland sieht durch solche Systeme seine Fähigkeit zu einem nuklearen Vergeltungsschlag gefährdet - und damit das Gleichgewicht der Abschreckung. Es beruht darauf, dass sich keine Seite durch einen nuklearen Erstschlag einen entscheidenden Vorteil verschaffen kann, weil der Gegner zu einem Zweitschlag in der Lage ist.

Bedroht sieht Russland die strategische Stabilität auch von Plänen der USA, Langstreckenraketen mit konventionellen Präzisionswaffen zu bestücken, die dazu dienen könnten, militärische Befehlsstände und andere Ziele von hoher Bedeutung für die Fähigkeit zur Kriegsführung auszuschalten.

China scheint massiv aufzurüsten

Von unmittelbarem Interesse für Europa ist die Zukunft von landgestützten nuklearen Mittelstreckensystemen: Die USA hatten den INF-Vertrag zu deren Verbot unter Trump im Einvernehmen mit den europäischen Nato-Alliierten gekündigt, weil Russland nach ihrer Überzeugung einen Marschflugkörper entwickelt hat, der gegen die INF-Limits verstößt. Allerdings kommt spätestens hier China ins Spiel: Das Land verfügt heute über Hunderte solcher Raketen - ein Problem für US-Truppen in Asien, zumal Biden Peking als entscheidenden Gegenspieler sieht.

Satelliten-Bilder legen zudem nahe, dass China in Wüstengebieten im Osten der Region Xinjiang und nahe der Stadt Yumen in der Provinz Gansu Felder mit Startsilos für jeweils mehr als 100 ballistische Interkontinentalraketen baut. Ob dahinter eine massive Aufrüstung des bisher vergleichsweise kleinen Arsenals und damit ein nukleares Wettrüsten steht, lässt sich noch nicht sagen.

Klar ist aber, dass ein solches Bestreben von Staats- und Parteichef Xi Jinping auch Folgen für Russland hätte: Moskau könnte binnen weniger Jahre seinen exklusiven Status als einzige Atommacht verlieren, die den USA auf gleiche Weise etwas entgegenzusetzen habe, warnte die Zeitung Kommersant. Russland finde sich dann in einer für es selbst "völlig neuen geopolitischen Konfiguration wieder".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5366498
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.