Atomstreit:Modell Künast: Die Stunde der Grünen

Stetigkeit hat die Grünen nach oben gebracht. Selbst das Führungspersonal - von Jürgen Trittin bis Renate Künast - ist seit Jahren unverändert. In Berlin und Stuttgart kann die Partei womöglich den Regierungschef stellen. Der Erfolg aber hat seine Tücken.

Thorsten Denkler, Berlin

Für die Grünen kommt der Castor-Transport einem verfrühten Weihnachtsgeschenk gleich. Tausende Menschen haben bei dieser größten Castor-Blockade, die es nach Ansicht der Atomgegner je gegeben hat, gezeigt: Atomkraft ist in Deutschland nicht mehrheitsfähig. Und die einzige Partei, die hier seit langem in vorderster Linie steht, das sind die Grünen.

Mitgliederabend der Berliner Grünen - Künast

Sie soll in Berlin Regierende Bürgermeisterin werden: Renate Künast, die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag.

(Foto: dpa)

Der Protest gegen die Atomkraft ist das Kerngeschäft der Partei. Nirgends sonst als in der Umweltpolitik wird ihr mehr zugetraut. Auf keinem anderen politischen Feld werden den Grünen derart hohe Glaubwürdigkeitswerte zugewiesen. Sie sind dank der Atompolitik der Bundesregierung derzeit - neben der Linken - die einzige politische Gruppierung, die nicht in einer Identitätskrise steckt.

Schon meldet sich die Spitzenpolitikerin Renate Künast mit viel Selbstbewusstsein zur Berlin-Wahl im nächsten Jahr an. Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag will nur als Siegerin aus der Bundespolitik ausscheiden und ins Berliner Abgeordnetenhaus wechseln: "Ich bin bereit, den Bundestag für dieses Amt der Regierenden Bürgermeisterin zu verlassen", sagt sie und fährt fort: "Das ist eine Entscheidung für mich, und die Partei akzeptiert das." Diese Entscheidung, nur die Führungsrolle zu übernehmen, habe sie mit Berlins Regierungschef Klaus Wowereit (SPD) gemeinsam.

"Bei aller Raubeinigkeit bin ich höflich und lege Wert auf mittelenglische Umgangsformen", erklärt Künast. Sie hat tatsächlich derzeit gute Chancen, gegen Wowereit zu siegen. Denn: Die SPD hat mit der Agenda-Politik in den Augen vieler ihrer Wähler ihre soziale Kernkompetenz an die Linke verloren. Die CDU ist dabei, ihr konservatives Profil zu beerdigen. Und die FDP hat als Steuersenkerpartei versagt.

Stabile bis exzellente Werte

Das würde erklären, warum die Grünen stabil blieben, vielleicht den ein oder anderen Prozentpunkt hinzugewinnen. Es erklärt aber nicht, warum die Grünen in Umfragen deutschlandweit über 20 Prozent liegen, in Berlin mit 30 Prozent vor allen anderen liegen und selbst in Baden-Württemberg stärkste Kraft werden können.

Wer hätte gedacht, dass die Grünen jemals die Chance haben würden, mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg und mit Renate Künast in Berlin zwei aussichtsreiche Kandidaten um das jeweilige Amt des Regierungschefs ins Rennen schicken zu können?

Nach der Wahlniederlage 2005 galten die Grünen als politisch tot. Sie waren in keiner Landesregierung mehr vertreten, im Osten schienen sie dauerhaft chancenlos zu sein, auch nur in die Landtage zu kommen.

Vergessen wird dabei: Die eigentliche Wahlverliererin 2005 war die SPD. Die Grünen fuhren mit 8,1 Prozent ihr drittbestes Bundestagwahlergebnis ein. Und dass zuvor die Grünen in den Ländern Regierungsverantwortung verloren, lag weniger am schlechten Abschneiden der einstigen Ökoaktivisten als an der schwächelnden SPD, die sich von Wahl zu Wahl in große Koalitionen retten musste.

Die Grünen haben sich schnell wieder sortiert.

Seit Jahren verbuchen sie stetigen Zuwachs. Sie konnten schon 2009 ihr historisch bestes Bundestagswahlergebnis einfahren. Dass dieser Rekord keine größere Beachtung fand, war einzig dem Umstand geschuldet, dass FDP und Linke ebenfalls Bestmarken setzten und noch vor den Grünen landeten.

Überraschend ist nur, dass die Grünen innerhalb eines Jahres ihre Umfragewerte verdoppeln konnten. Die einen glauben, das liege an den Stuttgart-21-Protesten. Doch die ersten grünen Ausschläge nach oben verzeichneten die Demoskopen bereits im Frühjahr 2010. Weit bevor also aus den Protesten gegen das Bahnhofsprojekt ein Bewegung wurde, die jetzt die schwarz-gelbe Landesregierung hinwegzufegen droht.

Andere behaupten, die Grünen profitierten von der miserablen Vorstellung der Bundesregierung. Da ist sicher etwas dran, beantwortet aber die Frage nicht, warum nur die Grünen derart profitieren, nicht aber SPD und Linke.

Keine Änderungen im Programm

Programmatisch haben sich die Grünen seit 2009 nicht verändert. Es gilt der Green New Deal, mit dem die Wirtschaft auf nachhaltiges und ökologisches Wirtschaften umgebaut werden soll. Selbst überzeugte Neu-Grüne dürften sich kaum durch das grüne Programm gearbeitet haben.

Sitzung des Bundesvorstandes der Gruenen

Die Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir und Claudia Roth, sitzen in einem Gasthof in Höhbeck-Pevestorf im Landkreis Lüchow-Dannenberg bei einer Vorstandssitzung der Partei nebeneinander.

(Foto: dapd)

Personell bieten die Grünen auch nicht gerade Erfrischendes. Die Spitzenkräfte Claudia Roth, Renate Künast, Jürgen Trittin und Cem Özdemir haben schon zu rot-grünen Zeiten wichtige Funktionen in Partei, Regierung oder Fraktion gehabt. Auf dem Parteitag Ende November in Freiburg werden Roth und Özdemir mit voraussichtlich sozialistischen Ergebnissen als Parteivorsitzende wiedergewählt werden.

Vielleicht aber ist es genau diese Stetigkeit, die die Menschen in Scharen zu den Grünen treibt. Die Themen der Grünen sind inzwischen in alle gesellschaftlichen Schichten gesickert. Kaum einer, der heute Ökologie und Nachhaltigkeit als linke Spinnerei abtun würde, ohne sich selbst damit zu schaden.

Bürgerliche Ökos

Die Grünen sind heute so bürgerlich wie die Anhänger der FDP und der Union. Sie heiraten, haben Vorgärten, mähen ihren Rasen und zahlen regelmäßig in Bausparverträge ein. Allerdings wohnen sie lieber im Niedrigenergiehaus, der Strom für den Rasenmäher kommt vom Ökoanbieter und die Lebensmittel aus dem Biosupermarkt. Sie sind bereit, mehr Geld auszugeben und höhere Steuern zu zahlen, wenn es sinnvoll ist.

Jetzt, wo ein angeblich bürgerliches Bündnis aus Union und FDP ganz offenbar nicht in der Lage ist, Deutschland gut zu regieren, liegt es offenbar für viele nahe, solchen Leuten mehr Macht zu geben. Doch dazu müssten die Grünen es schaffen, ihre Umfragewerte in Wahlergebnisse umzumünzen. Möglich ist das. Allerdings nur, wenn sie auf dem Teppich bleiben und nichts versprechen, was sie nicht sicher einhalten können.

Glaubwürdigkeit ist für die Grünen wichtiger als für andere Parteien. Das ist das Risiko. Wer mitregiert, kann es noch dem größeren Partner in die Schuhe schieben, wenn etwas nicht klappt. Der rot-grüne Atomkompromiss war für viele Grünen-Anhänger schwer zu verdauen. Dennoch war damals klar: Als kleiner Koalitionspartner einer industriefreundlichen SPD war nicht mehr drin. Das wird mit der geplanten Laufzeitverlängerung der aktuellen Bundesregierung deutlicher denn je.

Wer aber den Regierungschef stellt, der kann sich nicht wegducken, der trägt die Verantwortung für alles. Sollten also die Grünen demnächst in Baden-Württemberg und Berlin die Ministerpräsidenten stellen, dann kann sich das für die Bundestagswahl 2013 als Segen erweisen. Oder als großer Fluch.

Je nachdem.

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