Kein Staat bemüht sich so entschlossen um nukleare Abrüstung wie Japan. Zugleich jedoch setzt keiner so sehr auf Atomkraft. Und keine andere Regierung versucht so aggressiv, ihre Atomtechnik ins Ausland zu verkaufen. Das offizielle Tokio hat darin bis dato keinen Widerspruch erkannt. Es hält die Kernkraft für "grüne Energie", weil sie kein CO2 produziert. Auf ihre Gefahren angesprochen, reagierte man bisher entrüstet: Die Kernkraftwerke sind sicher. Basta. Die meisten Japaner haben das akzeptiert. Viele wollten nicht wahrhaben oder es war ihnen tatsächlich nicht bewusst, dass ein Atomunfall ganze Landstriche auf Jahrhunderte hinaus unbewohnbar machen kann.
Nun ist aber gerade Japan das einzige Land, das jemals Angriffe mit Atombomben erlitten hat. Die US-Bomben auf Hiroshima und Nagasaki töteten etwa 150000 Menschen sofort. Mindestens so viele kamen in den Wochen und Jahren danach ums Leben, meist starben sie langsam und qualvoll als Folge der Verstrahlung. 420000 Japaner wurden als "Hibakusha" anerkannt, als geschädigte Überlebende der Atomangriffe. Der Horror von Hiroshima und Nagasaki hat das Selbstbild Japans als Opfer geprägt.
Trotz dieses nuklearen Traumas aber begann Japan schon 1954 mit amerikanischer Hilfe Atomkraftwerke zu planen. Damals schien alles machbar zu sein , der Glaube an die Technik kannte keine Grenzen. Und Japan, im Krieg gedemütigt und geschlagen, wollte zurück an die Spitze - zumindest in der Technologie. 1966 ging der erste Reaktor ans Netz. Heute sind es 55, neuerdings werden einige von ihnen mit einem Gemisch von Uran und Plutonium betrieben. Dazu transportiert Japan Plutonium um die halbe Welt. Umweltschützer halten dies für grob fahrlässig. Nippon deckt 30 Prozent seines Elektrizitätsbedarfs mit Kernenergie. Und es soll mehr werden. Zwei neue Reaktoren sind im Bau, elf in Planung. Ein schneller Brüter arbeitet als Versuchsreaktor.
Diese nächste Kernenergie-Generation wollte man eigentlich schon von 1970 an kommerziell nutzen. Inzwischen heißt es, sie sei nicht vor 2050 bereit, so groß sind die Probleme. Dennoch klammert Tokio sich an die Kernkraft, als gäbe es keine Alternative. Derweil klagen die japanischen Windturbinen-Hersteller, der Staat habe noch nicht einmal Normen für Windkraftwerke festgelegt. Und Japans Solar-Industrie, einst weltweit der Pionier, hat ihren Vorsprung verloren.
Japan ist keine militärische Atommacht. Aber es verfügt über die Technik, in kurzer Zeit Atomwaffen herzustellen. Es ist trotzdem ein Atomstaat, der immer abhängiger geworden ist von der Kernenergie. Und man hat sich immer stärker auf sie fixiert. Die Politik ist deswegen mit der Atomindustrie eng verbandelt.
Japans Kernkraftwerke waren ursprünglich für Erdbeben bis zur Stärke von 7,75 ausgelegt, mit Beben von 9,0 auf der Richterskala wie in Sendai hat man einfach nicht gerechnet. Allerdings gab es vor vier Jahren in Kashiwazaki ein Beben der Stärke 6,6 und ein AKW wurde bedrohlich beschädigt. In Fukushima fielen nun alle drei Sicherheitssysteme zur Kühlung aus. Ein solches Totalversagen hielten die Konstrukteure für so unwahrscheinlich, dass sie keinerlei Vorsorge dafür trafen. Indes sind nicht nur die Sicherheitsvorkehrungen unzureichend, die Betreibergesellschaft Tepco hat sie überdies systematisch verletzt, wie die Regierung schon 2002 feststellte. In mehr als 200 Fällen hat Tepco Sicherheitsprotokolle gefälscht. Auch im Brüter sind Pannen gezielt vertuscht worden.
Japan ist eine Demokratie, aber die Kontrolle der Regierung durch die Wähler hat bisher kaum funktioniert. Erst als die Demokratische Partei vor zwei Jahren an die Macht kam, hat sich dies etwas gebessert. Davor wurde nie eine der oft inkompetenten und korrupten Regierungen abgewählt. Die Perestroika, die Japans Politik dringend braucht, hat noch kaum begonnen.
In einer Demokratie bilden die Medien die vierte Gewalt. Japans Medien tun das nicht. Sie kontrollieren die Machthaber so wenig wie dies die Wähler tun. Zwar decken sie Skandale auf; oft Geldgeschichten, die ihnen ein Staatsanwalt zuspielt. Eine kritische Öffentlichkeit aber, welche Regierung und Industrie hinterfragt, schaffen die Medien in Japan nicht. Am Rande des verkrusteten Systems gibt es durchaus Bemühungen, die aber von vielen Japanern nicht ernst genommen werden. Ein solches Randphänomen waren bisher die engagierten, gut informierten Atomkraftgegner. Doch ihre Demos sind winzig, sie finden kein Gehör. Dennoch werden sie, wie das so ist in einem Atomstaat, von der Polizei überwacht, belästigt und auch verfolgt.
Eine Debatte über die Kernkraft hat es in Japan nie gegeben. Der blinde Glaube an die Kernkraft aus den 1950er-Jahren hat sich bis heute erhalten, gerade auch unter Politikern. Anders als in Europa und den USA vermochten selbst Harrisburg und Tschernobyl die Kernenergie nicht zu bremsen.
Die unpopuläre Regierung von Premierminister Naoto Kan stand in den letzten Wochen vor dem Kollaps. Sie wirkte gelähmt, zerfahren, desorientiert und zerstritten. Jetzt muss sie das Land durch seine vielleicht schlimmste Katastrophe seit 1945 führen. Kann sie das? In der Sowjetunion hat der GAU von Tschernobyl den Niedergang eines kaputten, gelähmten politischen Systems beschleunigt.