Mit Abgründen im Klimaschutz kennt sich Brigitte Knopf gut aus. Die Berliner Forscherin ist stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats für Klima-Fragen - jenes Gremiums also, das jährlich die Klima-Bemühungen der Bundesregierung unter die Lupe nehmen soll. Gerade beim Verkehr sei die Lücke "sehr, sehr groß", sagt Knopf: Um 260 Millionen Tonnen Kohlendioxid könnten die Verkehrsemissionen bis 2030 vom deutschen Klimaziel in Summe abweichen. "Mit kleinen Korrekturen kommt man da nicht hin", sagt Knopf. Und wie die Atomkraft dabei helfen soll, ist ihr schleierhaft. "Ich tippe auf eine Nebelkerze", sagt sie.
Volker Wissing, der Verkehrsminister von der FDP, hat dafür die Atomkraft ins Spiel gebracht, und das nun zum wiederholten Mal. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verlangte er am Dienstag eine weitere Expertenkommission. Sie soll klären, ob längere Laufzeiten für Atomkraftwerke über den Ausstiegstermin Mitte April helfen könnten, den Verkehr klimafreundlicher zu gestalten. Schließlich entstehe mit Atomstrom so gut wie kein CO₂, Elektroautos ließen sich damit klimafreundlicher betreiben als mit Kohlestrom, argumentiert Wissing. Günstiger werde es damit auch.
Kernkraft macht Strom nur minimal billiger, sagt die Expertin
Der Koalition beschert der FDP-Mann damit die Wiederkehr einer Diskussion, die sie erst im vorigen Herbst an den Rand der Kernspaltung gebracht hatte. Weil die Grünen einen AKW-Weiterbetrieb über das geplante Ausstiegsdatum zum Jahreswechsel ablehnten, die FDP den Weiterbetrieb jedoch wollte, war Kanzler Olaf Scholz gezwungen, von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen - als erster Kanzler seit Konrad Adenauer 1956.
Zwar sollten die Ministerien den Weg frei machen für einen Weiterbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke, schrieb Scholz in einem Brief. Dies aber "bis längstens zum 15.4.2023". Von Donnerstag an haben die Atomkraftwerke damit nur noch genau 100 Tage Laufzeit. Zuletzt hatte sich auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) dafür ausgesprochen, es dabei nun bewenden zu lassen. Auf die Frage nach Wissings Vorstoß hieß es auch in Regierungskreisen, dass der Kanzler die Sache entschieden habe, die Zeit der Atomkraft in Deutschland also Mitte April ende.
Wissing, der zwar auch Mitglied des Bundeskabinetts ist, aber seinerzeit keiner der Adressaten von Scholz' Brief war, sieht das etwas anders. "Wir brauchen jetzt keinen politischen Streit und keine Rechthaberei", findet er. Nötig sei Expertise. "Wenn wir es politisch nicht diskutieren wollen, dann müssen wir es wissenschaftlich klären."
Zumindest aus Sicht der Wissenschaftlerin Knopf gibt es da jedoch nicht viel zu klären. "Den Strom würde das nur minimalst billiger machen, und nachhaltig ist es auch nicht", sagt sie. Sinnvoller sei es, die Ökoenergien auszubauen. "Und im Übrigen haben wir nicht das Problem, dass wir zu viele Elektro-Autos haben und nicht mehr wissen, woher wir den Strom dafür bekommen sollen. Das Problem ist, dass in diesem Land immer noch Diesel- und Benzinautos gekauft werden." Um das zu ändern, brauche es einen großen Wurf: die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs oder der Steuervorteile für Diesel etwa, eine Zulassungssteuer für Verbrenner oder auch eine City-Maut in großen Städten. "Stattdessen setzen wir immer noch Anreize in die falsche Richtung", sagt Knopf.
Will der Minister nur ablenken von fehlenden Verkehrslösungen?
Hinter Wissings Vorstoß steckt damit mehr als nur ein neues Kapitel im Laufzeit-Krach. Es bahnt sich handfester Streit über die Erreichung der deutschen Klimaziele an, und über die wacht der Klimaminister Robert Habeck von den Grünen. Das Klimaschutzgesetz verpflichtet Wissing dazu, Vorschläge zu unterbreiten, mit denen sich die Lücken in seinem Sektor stopfen lassen. Vorschläge für ein "Sofortprogramm" hat er schon im vorigen Jahr vorgelegt, es setzt auf mehr Radverkehr und mobiles Arbeiten, auf effiziente Lkw-Trailer und mehr Ladesäulen. Schon im August hatte Knopfs Expertenrat das als ungenügend zurückgewiesen. Doch mehr will Wissing derzeit nicht liefern. Stattdessen pocht der Verkehrsminister auf Änderungen im Klimaschutzgesetz, die ihm mehr Spielraum verschaffen.
In Kreisen von Habecks Ministerium sorgt das für Ärger - nicht nur, weil damit die Richtlinienkompetenz des Kanzlers infrage gestellt werde. Auch will das Ministerium keine Zugeständnisse an Wissings Ministerium machen. Man erwarte "substanzielle Vorschläge", mit denen sich die Lücke im Verkehrssektor schließen lasse. Ablenkungsmanöver, so heißt es, würden da nicht helfen. Und auch im Umweltlager wächst das Entsetzen. Wissing versuche, mit solchen Diskussionen davon abzulenken, dass er bislang keine Lösungen für die Probleme im Verkehrssektor vorgelegt hat, sagt Jens Hilgenberg, Leiter Verkehrspolitik beim BUND.
Die Ampelkoalition, die sich für 2023 eigentlich einen konstruktiveren Kurs vorgenommen hatte, schlittert so mit dem nächsten Streit ins neue Jahr. "Atomkraft ist nicht nachhaltig und schon gar nicht günstig", warnte am Dienstag SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch. "Alle Koalitionspartner sollten ihre Kraft nun darauf verwenden, die im Koalitionsvertrag festgelegten Ausbauziele der Erneuerbaren zu realisieren. Darum muss es jetzt gehen."
Auch Grünen-Chefin Ricarda Lang hatte Wissing gerade öffentlich zu mehr Klimaschutz ermahnt. "Jeder Sektor muss einen Beitrag für die im Gesetz festgelegten Klimaziele leisten", sagte sie. Aus Kreisen der Parteispitze wurde Ärger über den neuerlichen Vorstoß der FDP deutlich - aber auch die Hoffnung, dass der Kanzler nun Wort hält. Diesmal, so sagt eine Führungskraft, werde Olaf Scholz den Atomausstieg nicht aufhalten.