Atomkraftwerke in der Ukraine:Strahlende Risiken

Lesezeit: 3 Min.

Nur 200 Kilometer entfernt vom umkämpften Rebellengebiet in der Ostukraine steht die größte Atomanlage Europas. Kiew sorgt sich schon länger über die Sicherheit der Anlage. Behörden melden rätselhafte Attacken, die Nato schickt Experten - und nun gerät auch die Bundesregierung unter Druck.

Von Markus Balser, Berlin

Enerhodar - für viele in der Ukraine heißt dieser Ort einfach nur die "Atomstadt". Gegründet wurde sie erst vor einigen Jahrzehnten für ein erstes Kraftwerk. Bis heute ist der 50 000-Einwohner-Ort im Südosten des Landes weithin sichtbar einer der wichtigsten Energielieferanten der Ukraine. Die sechs Reaktorblöcke der Nuklearanlage Saporischschja ziehen sich über viele hundert Meter entlang des Kachowkaer Stausees am Unterlauf des Flusses Dnepr. Das Kraftwerk ist nicht nur der größte Arbeitgeber der Stadt und verantwortlich für einen Großteil des ukrainischen Stroms. Hier steht auch die größte Atomanlage Europas.

Die Dimension der Atomstadt war den Kritikern der Technik schon immer suspekt. Doch in diesen Tagen wird selbst Fachleuten der Atombranche mulmig beim Gedanken an Saporischschja. Denn nur gut 200 Kilometer von den Ausläufern der umkämpften Rebellengebiete im Osten des Landes entfernt liegen die Reaktoren in einer der gefährlichsten Regionen Europas.

Zu spüren bekamen die Mitarbeiter das erstmals im Frühjahr, als eine Gruppe Bewaffneter mitten in der Nacht versuchte, in den Komplex einzudringen. Polizisten stoppten die Attacke in letzter Minute. Die Hintergründe des Angriffs liegen noch immer im Dunkeln.

Kiew schickt immer wieder Warnsignale und fordert Unterstützung

Angesichts des eskalierenden Konflikts zwischen der Ukraine und Russland wachsen auch in Deutschland die Sorgen um die Sicherheit der Anlagen. Die ukrainische Regierung hatte in den vergangenen Wochen immer wieder Warnsignale geschickt und sogar die Nato um Beistand gebeten. Die entsandte erstmals im April zivile Experten, um den Schutz der Atomkraftwerke und weiterer Energie-Infrastruktur wie Gasanlagen sicherzustellen.

Auch in einem Brief an den Generalsekretär der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) warnte Kiew vor "illegalen bewaffneten Aktionen russischer Truppen auf dem Gebiet der Ukraine" und den "möglichen Auswirkungen auf die Atomenergie-Infrastruktur".

Neben Saporischschja im Osten sind noch drei weitere Kraftwerke im Westen, Süden und Osten des Landes am Netz. Insgesamt gibt es in der Ukraine 15 Reaktoren. Sie decken etwa die Hälfte des ukrainischen Strombedarfs. Die Anlagen sind alle russischer Bauart und mit 25 bis 30 Jahren nach Ansicht der Umweltorganisation Greenpeace schon allein durch ihr Alter ein erhebliches Risiko.

Grüne und SPD fordern entschlossenes Handeln

Bislang aber, wundern sich Umweltschützer und die Opposition in Deutschland, spielten die Anlagen in der Krisenpolitik westlicher Politiker trotzdem offenbar kaum eine Rolle. Noch im Juli hatte die Bundesregierung erklärt, die Ukraine könne aus ihrer Sicht die "nukleare Sicherheit gewährleisten". Auch Auswirkungen auf die Arbeiten am havarierten Reaktor von Tschernobyl sehe man nicht, ließ Rita Schwarzelühr-Sutter, Parlamentarische Staatssekretärin im Umweltministerium, besorgte Bundestagsabgeordnete in einem Schreiben wissen.

Angesichts der aktuellen Eskalation in der Ukraine fordert die Opposition entschlossenes Handeln. Die Grünen etwa werfen der Bundesregierung vor, viel zu wenig für den Schutz der Atomanlagen zu tun. "Es gibt in der Ukraine eine akute Bedrohungslage. Die ukrainischen Atomanlagen stellen eine permanente Gefahr dar. Die Bundesregierung unterschätzt diese ernsthafte Problematik seit Beginn des Konflikts", warnt Sylvia Kotting-Uhl, die atompolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. Berlin müsse sich unverzüglich für eine Verstärkung der Sicherheit an den Atomanlagen einsetzen und aktiv eigene Gespräche aufnehmen, fordern die Grünen-Politikerin und Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter in einem gemeinsamen Brief an Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Das Schreiben liegt der Süddeutschen Zeitung vor.

Das Bundesumweltministerium kann eine "unmittelbare Gefährdung" nicht erkennen

"Eine unmittelbare Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen lässt sich derzeit nicht erkennen", erklärt das Bundesumweltministerium dazu am Dienstag zwar. Doch Berlin signalisiert auch, dass es die Sorgen ernst nimmt. "Die Bundesregierung hat ein elementares Interesse daran, dass neben der Gewährleistung der Betriebssicherheit die ukrainischen Atomkraftwerke diese auch gegen Anschläge ausreichend geschützt werden", erklärt das Ministerium weiter. So stehe die deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mit der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde und mit Sachverständigen der Ukraine in ständigem Erfahrungsaustausch. Ziel sei es, die nukleare Sicherheit und Sicherung zu verbessern.

"Die ukrainische Atombehörde hat darüber hinaus ihr Interesse an einer Ausweitung der Zusammenarbeit mit Deutschland zu Fragen der Anlagensicherung geäußert", teilt das Ministerium mit. Berlin werde nun mit seinen Partnern prüfen, wie die internationale Gemeinschaft und Deutschland die Ukraine bei diesem Anliegen unterstützen können.

Atomexperten wurden bislang auf der Krim ausgebildet

Dass die Atomanlagen nicht in den umkämpften Gebieten liegen, beruhigt westliche Politiker nicht. Der Abschuss der Linienmaschine von Malaysia Airlines verfestige die "große Sorge, die viele Menschen, uns eingeschlossen, seit längerer Zeit umtreibt: ukrainische Atomstandorte als mögliche Anschlagsziele", heißt es in dem Schreiben der Grünen weiter. Gefährlich werden könnten allerdings bereits technische Probleme. Das Beispiel Fukushima machte klar, dass schon eine längere Unterbrechung der Stromversorgung zu einem Super-GAU führen kann. Und auch den sicheren Transport von Atommaterial aus und nach Russland halten Experten für gefährdet.

Zum Verhängnis wird in der Krise auch die enge Verzahnung von ukrainischer und russischer Atomwirtschaft. Alle 15 ukrainischen Atomkraftwerksblöcke sind sowjetischen Typs. Den Atommüll schickte Kiew zurück über die Grenze an den Ural oder nach Sibirien - ein eigenes Endlager gibt es in der Ukraine nicht. Offen ist auch, ob in Zukunft genug qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Denn ukrainische Atomexperten wurden bislang an jenem Ort ausgebildet, der wie kein anderer für die Krise steht: Sewastopol auf der Krim.

© SZ vom 27.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: