Süddeutsche Zeitung

Atomkraftwerke in der Ukraine:Gefechte am Atomkraftwerk

Russische Truppen feuern Marschflugkörper über Kernkraftanlagen. Die Internationale Atomenergiebehörde sagt bei einem Besuch in Tschernobyl technische Unterstützung zu.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Rafael Mariano Grossi hat einen Korb mit Blumen mitgebracht und schwarze Plastikkisten, in denen Dosimeter und andere Strahlenmessgeräte stecken. Die Blumen galten dem Gedenken der Opfer des Reaktorunfalls von Tschernobyl im Jahr 1986. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) besuchte die Anlage am Jahrestag des Unfalls, am 26. April. Gekommen war er, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen, nachdem die russischen Truppen von dem Gelände abgezogen sind, auf dem sich heute ein High-Tech-Sarkophag befindet, der den havarierten Kraftwerksblock einschließt und diverse Anlagen zur Verarbeitung und Lagerung nuklearer Abfälle.

Auch wenn seit Jahren keiner der einst vier Blöcke mehr am Netz ist, verurteilte Grossi die vorübergehende Besetzung des Kernkraftwerks durch russische Soldaten scharf und bot an, bei der Behebung der Schäden zu helfen. "Die Situation war absolut abnormal und sehr, sehr gefährlich", sagte Grossi mit Blick auf die Wochen nach dem russischen Einmarsch. Moskaus Truppen waren bei ihrem Vormarsch auf Kiew nahe Prypjat durch die Sperrzone im Umkreis von 30 Kilometern um Tschernobyl marschiert. Die ukrainischen Mannschaften waren gezwungen, über Wochen ohne die übliche Rotation zu arbeiten; sie überwachen große Mengen abgebrannter Brennelemente und andere radioaktive Materialien. Die Stromversorgung war unterbrochen.

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Die Ukraine hat die IAEA kürzlich darüber informiert, dass Labore in Tschernobyl zur Überwachung der Strahlung in der Region zerstört und Instrumente gestohlen, beschädigt oder anderweitig unbrauchbar gemacht wurden. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sagte in der Nacht zum Mittwoch nach einem Treffen mit Grossi in Kiew, russische Truppen hätten Geräte gestohlen. Die Ukraine beklagt auch, dass durch den Einsatz von schwerem militärischen Gerät in kontaminierten Gebieten radioaktiver Staub aufgewirbelt wurde. Das hatte sich in zeitweise leicht erhöhten Messwerten gespiegelt. Die Strahlenbelastung sei inzwischen aber wieder auf normalem Niveau, sagte Grossi.

Der argentinische Diplomat hatte seit Beginn des russischen Angriffs engen Kontakt zu den ukrainischen Behörden gehalten und dem Land Unterstützung zugesagt, um die Atomkraftwerke und weitere Nuklearanlagen weiter sicher betreiben zu können. Bereits Ende März war er in das Land gereist und hatte sowohl Vertreter der ukrainischen Regierung, der Regulierungsbehörde und des staatlichen Atomkonzerns getroffen und das Atomkraftwerk Süd-Ukraine im Bezirk Mykolajiw besucht. Er sprach dort mit dem Direktor und technischen Experten.

Grossi dringt auf Sicherheitszonen

Das größte Atomkraftwerk des Landes in der Nähe von Saporischschja steht seit der Eroberung durch russische Truppen militärisch weiter unter deren Kontrolle. Gefahren werden die sechs Reaktoren von ukrainischen Mannschaften im regulären Schichtbetrieb. Russland habe schweres Militärgerät auf dem Gelände stationiert, heißt es von ukrainischer Seite. Bei einem Angriff auf Ziele im etwa 60 Kilometer entfernten Saporischschja hätten die russischen Soldaten tieffliegende Marschflugkörper über das Kraftwerk hinweg gefeuert. An das Kraftwerk Süd-Ukraine waren die Kämpfe in der Region Mykolajiw bis auf wenige Dutzend Kilometer herangerückt.

Grossi hatte bei Kriegsbeginn gefordert, Sicherheitszonen um Nuklearanlagen einzurichten und darauf gedrungen, in deren Nähe keine Gefechte zu führen. Zu derartigen Verhandlungen zeigte sich Russland allerdings nicht bereit. Seither konzentriert sich die IAEA auf die technische Unterstützung der Ukraine. So brachte Grossi neben Dosimetern auch weitere Geräte zur Strahlenmessung und Spektrometer ebenso wie Schutzkleidung mit nach Tschernobyl und kündigte an, eine Arbeitsgruppe einzurichten. Selenskij sagte er nach einer "Diskussion über die Sicherheitslage in ukrainischen Nuklearanlagen" weitere Unterstützung zu.

Kiew hatte kürzlich der IAEA eine lange Liste von Ausrüstung übergeben, die notwendig sei, um den sicheren Betrieb der ukrainischen Kernkraftwerke während des Krieges mit Russland zu gewährleisten. Dazu gehören Computerunterstützung, Stromversorgungssysteme und Dieselgeneratoren. Grossi hatte zugesagt, die Hilfe zwischen der IAEA und ihren Mitgliedstaaten zu koordinieren, ebenso wie die Lieferung an die Ukraine.

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