Süddeutsche Zeitung

Energiepolitik:Atomkraft, ja gerne!

Mark Nelson organisiert Demonstrationen gegen den Atomausstieg. Die deutsche Angst vor der Kernenergie hält er für irrational. Teil 4 der SZ-Serie.

Von Björn Finke, Brüssel

Mark Nelson ist sauer auf die Atombranche - weil sie ihn und seine Bewegung nicht genug unterstütze, wie der Kampagnenmanager klagt: "Wir kämpfen schon so lange dafür, von der Nuklearindustrie anerkannt zu werden, und jedes Mal, wenn wir denken, es ist nun so weit, zieht sich die Industrie zurück in ihr Schneckenhaus." Der 32-jährige Amerikaner organisiert "Stand Up for Nuclear", zu Deutsch: Steh auf für Kernkraft. Das ist die nach eigenen Angaben erste und größte internationale Pro-Atomkraft-Bewegung. Die Mitglieder treffen sich zu Demonstrationen vor Atommeilern oder in Hauptstädten weltweit, um gegen Ausstiegspläne zu protestieren. Denn ein Abschalten der Meiler sei unnötig und gefährde den Klimaschutz, lautet ihr Argument.

Kürzlich veranstaltete "Stand Up for Nuclear" einen Protest vor dem Brandenburger Tor in Berlin; Mitglieder verkleideten sich als Eisbären, um auf die Folgen der Erderwärmung aufmerksam zu machen. In Deutschland unterstützen die Vereine Nuklearia, Ökomoderne, die Partei der Humanisten und die "Mothers for Nuclear" die Bewegung - alles Gruppen, die den Atomausstieg ablehnen. Umweltschutzorganisationen wie der BUND werfen diesen Vereinigungen vor, getarnte Lobbyarbeit für die Atomindustrie zu betreiben. Doch Kampagnenmanager Nelson beklagt im Gegenteil, die Stromkonzerne seien zu hasenfüßig und würden zu wenig Geld investieren: "Die Unternehmen werben nicht für Atomkraft, weil sie Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit haben", sagt er.

"Tschernobyl war nicht das Ende der Welt."

Er schätzt das weltweite Budget für Pro-Kernkraft-Lobbying auf 20 Millionen Dollar - "das ist erbärmlich, Kernkraftgegner haben viel mehr zur Verfügung". Nelson ist frustriert, weil die Betreiber der Atomkraftwerke seine Demonstrationen nicht fördern. Bei einem Protest in Brüssel mit etwa 100 Teilnehmern habe der belgische Energiekonzern Engie nicht einmal Brötchen oder Bier sponsern wollen, geschweige denn seine Arbeiter zum Mitmachen ermuntert.

Nelson betreibt eine Strategieberatung in Chicago namens Radiant Energy Group; mit PR und Lobbyismus habe seine Firma nichts zu tun, sagt er. Um "Stand Up for Nuclear" kümmert sich Nelson nebenher, das Projekt werde durch Spenden finanziert, erklärt er. Der junge Amerikaner mit dem Hipster-Schnurrbart studierte in Oklahoma Ingenieurwissenschaften und Russisch, bevor er dann als Stipendiat im englischen Cambridge einen Abschluss in Nukleartechnik draufsattelte. Er hat aber nie in einem Kernkraftwerk gearbeitet, was ihm nach eigenem Bekunden ein wenig peinlich ist. Stattdessen fing Nelson bei "einer der am meisten gehassten und geliebten" Umweltgruppen an, bei Environmental Progress in Kalifornien. Gründer und Präsident der Organisation, deren Name "Umweltfortschritt" bedeutet, ist der ebenso bekannte wie umstrittene Klima- und Kernkraft-Aktivist Michael Shellenberger. Später machte sich Nelson selbständig.

Deutschland gehört zu den Staaten, wo "Stand Up for Nuclear" zuletzt besonders aktiv war. Das ist kein Wunder, schließlich gehen in diesem und dem kommenden Jahr die letzten sechs Kernkraftwerke vom Netz - das Finale des deutschen Atomausstiegs. Nelson kritisiert, die Bundesrepublik mache sich damit noch abhängiger von russischem Gas. Die deutsche Angst vor dem Atom hält er für irrational: "Tschernobyl war fürchterlich, jedoch nicht das Ende der Welt", sagt er. Und die Ukraine sei heute "das atomverrückteste Land des Planeten", das den Anteil von Atomstrom am Energiemix hochfahre, um weniger auf russisches Gas angewiesen zu sein. Nelson glaubt, dass sich die Stimmung in vielen Ländern gerade drehe, zugunsten von Kernkraft: "Wir sehen einen Gezeitenwechsel."

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