Kann man über "die Bombe" überhaupt Neues schreiben? Alles scheint gesagt zu sein, jede Ecke ausgekehrt - wie die Supermächte seit Jahrzehnten versuchen, aus den militärisch untauglichen Weltuntergangswaffen politisches Kapital zu schlagen, wann es zu haarsträubenden Zwischenfällen auf Stützpunkten kam und warum die Welt in manchen Krisen buchstäblich mehr Glück als Verstand hatte.
All das lässt der amerikanische Wissenschaftsjournalist Fred Kaplan Revue passieren. Im Kern aber lenkt der Autor unseren Blick auf das Verdrängte. Genauer gesagt auf den Selbstbetrug der politisch Verantwortlichen.
Generationen von Politikern und Militärexperten haben sich Modelle für den Fall zurechtgelegt, dass die Abschreckung versagt. Flexibilität, Selbstbeschränkung, Eskalationskontrolle, abgestufte Reaktion, resiliente Befehlsketten, Schonung ziviler Ziele, so lauten die Zauberformeln, um der unzumutbaren Alternative zwischen Kapitulation und Untergang zu entgehen und um das Monströse irgendwie zu bändigen.
Berlin und die Bombe:Ein offenes Geheimnis
Beim Streit um US-Atomwaffen und Deutschlands nukleare Teilhabe geht es um weit mehr als nur neue Jets - nämlich um Berlins sicherheitspolitische Rolle in der Welt.
Alles Fiktion, befindet Kaplan, intellektuelle Trockenübungen bar jeder praktischen Relevanz.
Militär und Politik - zwei Paralleluniversen
Warum? Weil die für die Umsetzung zuständigen Militärs mit alledem nichts anfangen können oder nichts anfangen wollen. Im amerikanischen Fall folgen die Einsatzplaner des "Strategic Air Command" ihrer hausgemachten Logik: Sollte es zum Äußersten kommen, muss ein Atomkrieg geführt und gewonnen werden, möglichst schnell und mit überschaubarem Schaden für die eigene Seite. Von wegen Handlungsspielraum.
Alle, ausnahmslos alle Eventualpläne sehen bis heute die "Major Attack" als beste aller Optionen vor - ein Maximum an Zielen mit maximaler Feuerkraft einzudecken. In den frühen 1980er-Jahren, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, galt der gleichzeitige Angriff mit eintausend Atomraketen gegen die UdSSR als strategisches Minimum.
Auf russischer Seite, so ist mit guten Gründen zu vermuten, plante man spiegelverkehrt genauso. Welche Faktoren zu dieser Rigorosität im "Strategic Air Command" beitrugen, legt Kaplan mit stupender Sachkenntnis dar. Zu besichtigen sind zwei Paralleluniversen, ein politisches und ein militärisches, die kein Gespräch führen können, weil sie sich nichts zu sagen haben.
Der Clou der Geschichte ist indes ein anderer. Nicht beim Militär liegt der Schwarze Peter, zu skandalisieren ist die Lethargie auf der Ebene der Politik. Niemand, kein Präsident, kein Verteidigungsminister, kein Sicherheitsberater, brachte bislang die Kraft zur Revision nuklearer Operationspläne auf. Zwar kam es zu Interventionen, hin und wieder auch zu heftigem Streit über Maßnahmenpakete, die im Kriegsfall alles zerstören würden, was es eigentlich zu schützen gilt.
Aber es blieb bei Appellen. Ob die Kritik am "Overkill" gehört und einschlägige Szenarien tatsächlich korrigiert wurden, diese Frage spielte schlicht keine Rolle. Folglich schreibt Kaplan die endlose Geschichte einer freiwilligen Kapitulation politisch Verantwortlicher - konfliktscheu oder opportunistisch die einen, naiv bis desinteressiert die anderen.
Für alle gilt der auf Barack Obama gemünzte Satz: "He paints within the lines." In freier Übersetzung: Die Militärbürokratie herauszufordern, ist allemal kostspieliger als zu schweigen.
Von "checks und balances" kann hier keine Rede sein
Als wäre es damit nicht genug, rückt Kaplan auch noch die für das Militär zuständigen Parlamentarier ins Bild. Männer und Frauen also, die bei der Bewilligung von Budgets das letzte Wort haben. Und denen eigentlich daran gelegen sein müsste, über die Modalitäten der Freigabe von Atomwaffen Bescheid zu wissen - wer in den Entscheidungsprozess eingebunden ist, ob es Brandmauern gegen illegale Befehle gibt, welche Automatismen unter welchen Bedingungen greifen.
Kurz: Wie das "Command and Control"-Verfahren aussieht. Sage und schreibe 41 Jahre lang, zwischen 1977 und Ende 2018, ließ der Senat das Thema links liegen. Und wurde dann in einer Anhörung des Außenpolitischen Ausschusses in Kenntnis gesetzt, dass sich in dieser Zeit nicht das Geringste geändert hatte.
Egal ob Vergeltung oder Erstschlag, allein der Präsident gebietet über den Einsatz von Atomwaffen, weder der Verteidigungsminister noch die Chefs der Teilstreitkräfte haben ein Wort mitzureden, die Befehlsempfänger - Kommandeure auf weit entfernten Stützpunkten zu Land und zur See - müssen im Unwissen über die mentale oder psychische Verfassung ihres obersten Kriegsherren Folge leisten.
Nirgendwo ist festgelegt, was unter einem illegalen Einsatzbefehl zu verstehen ist und unter welchen Umständen es ein Recht, geschweige denn eine Pflicht zur Verweigerung gibt. Von "checks and balances", belastbaren Kontrollverfahren, kann also ausgerechnet bei der Entscheidung über Leben und Tod von Millionen keine Rede sein.
In anderen Worten: Ob ein Irrer den Atomknopf drückt oder ein Verantwortungsbewusster nur die Wahl zwischen irren Optionen hat, läuft unter Umständen auf dasselbe hinaus. Dies sollte bedenken, wer in Deutschland von nuklearer Teilhabe träumt und sich einredet, im Fall der Fälle irgendwelchen Einfluss auf US-Entscheidungen nehmen zu können. Auch darum ist dem Buch eine deutsche Übersetzung zu wünschen.
Bernd Greiner ist Gründungsdirektor und Mitarbeiter des "Berliner Kollegs Kalter Krieg".
Fred Kaplan: The Bomb. Presidents, Generals, and the Secret History of Nuclear War. Simon & Schuster, New York 2020. 384 Seiten, 30 Dollar.