Flucht nach Europa:Sackgasse Griechenland - 22 000 Flüchtlinge sitzen fest

Flucht nach Europa: Flüchtlinge warten an der Grenze Griechenlands zu Mazedonien.

Flüchtlinge warten an der Grenze Griechenlands zu Mazedonien.

(Foto: AFP)
  • Vor einer Woche hat Mazedonien damit begonnen, die Grenze zu schließen und lässt Flüchtlinge nur noch handverlesen durch.
  • 22 000 Flüchtlinge stecken deshalb nun schon in Griechenland fest - und es könnten noch deutlich mehr werden.

Von Mike Szymanski, Piräus

Soll das Europa sein: ein einziger großer Betrug? Minar, 37 Jahre alt, weißes Kopftuch unter schwarzer Winterjacken-Kapuze, sitzt auf einer Betonmauer im Hafen von Piräus. Sie und ihre Familie hätten längst auf dem Weg zur griechisch-mazedonischen Grenze sein sollen. Mitten in der Nacht legte die Fähre im Hafen an. Der Bus fuhr auch gleich vor. Ein Mann nahm jedem 50 Euro für die Fahrt ab. Nach 15 Minuten hielt der Bus wieder und lud die Leute aus. Schon da? Als der Bus auf und davon war, merkten sie, dass sie wieder im Hafen von Piräus waren.

Es ist reiner Zufall, dass Minar - ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen - und ihre soeben nicht nur um Hoffnung beraubte Schicksalsgemeinschaft von 30 Männern und Frauen direkt neben einer unübersehbaren Botschaft sitzen. Jemand hat mit schwarzer Farbe auf ein Schild geschrieben: "Nach Deutschland, Merkel. Bitte!" Nach dieser Geschichte liest sich das Wort "Bitte" fast schon flehend.

Nach sechs Jahren Schuldenkrise ausgezehrt, kollabiert es in der Krise als erstes Land

Aber Deutschland erscheint gerade wieder so unendlich weit weg. Griechenland ist auch ohne das Zutun skrupelloser Seelenverkäufer zur Sackgasse geworden. Mazedonien hat vor einer Woche damit begonnen, die Grenze zu schließen und lässt Flüchtlinge nur noch handverlesen durch. Afghanen zum Beispiel dürfen gar nicht mehr passieren. Seither stauen sich die Flüchtlinge in Griechenland, denn über die Türkei kommen immer noch täglich mehrere Tausend auf den Ferieninseln an.

Den Menschen, die sich gerade ein paar hundert Meter weiter entfernt am Kai in eine Warteschlange einreihen, wird vorgegaukelt, dass die Reise weitergeht. Busse fahren vor. Jeder, den man fragt, glaubt, jetzt geht es endlich zur Grenze und dann weiter entlang der Balkanroute. Viele sagen: "Nach Deutschland!" Tagelang fuhren überhaupt keine Busse, jedenfalls keine öffentlichen. Wenn die Regierung Busse schickt, dann muss doch wieder etwas gehen? Aber Yannis Pappas weiß es besser. Er ist Regionaldirektor des Busunternehmens, das im Auftrag der Regierung fährt. "Wir haben die Anweisung, 1800 Menschen ins Flüchtlingslager Diavata in der Nähe von Thessaloniki zu bringen." Von dort aus sind es immer noch 70 Kilometer nach Idomeni. So heißt der Sehnsuchtsort, ein Dorf mit Grenzübergang, in dessen Stacheldraht Tausende Hoffnungen hängengeblieben sind.

Hunderte Flüchtlinge blockierten dort aus Protest gegen die Grenzschließung am Sonntag eine Bahnlinie.

Es gibt keine Betten, nicht einmal für Kinder oder alte Menschen

Im Hafen von Piräus kann man besichtigen, wozu es führt, wenn Europa keinen gemeinsamen Weg aus der Flüchtlingskrise findet. Griechenland, nach bald sechs Jahren Schuldenkrise ausgezehrt, kollabiert als erstes Land. Im Moment sollen sich gerade 22 000 Flüchtlinge im ganzen Land aufhalten - jene, die in Bussen durchs Land irren, schon eingerechnet. Gemessen an Deutschland, das ein Vielfaches an Verzweifelten aufgenommen hat, mag die Zahl klein erscheinen. Man muss aber nur einmal einen Blick in die Wartehalle für Fährgäste am Terminal E 7 werfen. Dort riecht es nach Turnhalle, aber nicht nach Sport, sondern nach Qual. Es gibt keine Betten, nicht einmal für die Kinder oder die Alten. Sitzbänke aus Metall werden zu Pritschen zusammengeschoben. Aber die meisten schlafen auf dem Boden. Pavlina Roncheva putzt hier, die dunkelblonde Mähne mit einem Haargummi gebändigt. Aber was heißt hier: putzen. Sie wischt um die Gestrandeten herum, erschöpfte Körper, unter Decken versteckt. "Schauen Sie selbst", sagt sie. "Mir fehlen die Worte."

Also geht die Frage an Timos Chaliamalias von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen: Hat Griechenland die Lage überhaupt noch unter Kontrolle? "Das werden wir in den nächsten Tagen sehen." Im Moment verschlechtere sich die Situation von Tag für Tag. 50 000 Plätze zur Registrierung und Unterbringung wollte Griechenland eigentlich geschaffen haben. Jetzt zeigt sich, dass das Land schon mit 25 000 Hilfesuchenden restlos überfordert ist.

Mouzalas gibt Deutschland eine direkte Schuld an der Lage

Am Sonntag meldet sich Migrationsminister Yannis Mouzalas im Morgenfernsehen zu Wort. Man kann sagen, dass er die Lage nicht beschönigt hat. Bei den EU-Partnern bitte sein Land um Nothilfe. Die Zahl der Flüchtlinge könnte auf bis zu 70 000 steigen bis Ende März. Wer jetzt morgens um 1.30 Uhr auf den Athener Victoria-Platz schaut, und Gestrandete Körper an Körper unter freiem Himmel schlafen sieht, mag sich das lieber nicht vorstellen: Dreimal so viele Flüchtlinge im Land.

Premier Alexis Tsipras hat sich unlängst bei Kanzlerin Merkel darüber beschwert, dass Österreich und die Balkanländer Grenzen schließen. Er sieht in ihr eine Verbündete. Nach diesem Wochenende bekommt auch dieses Verhältnis einen Knacks. Mouzalas gibt Deutschland eine direkte Schuld an der Lage. Hätten die Länder Mitteleuropas sie nicht eingeladen, "mit Bällen, Luftballons und Blumen", würden die Flüchtlinge nicht kommen, sagt er.

In der orthodoxen Kirche Agia Triada, einem Prachtbau mitten in Piräus, geht der Gottesdienst zu Ende. Pater Daniel hat über Sünde gesprochen und darüber, dass eine Institution zu zerbrechen droht. Aber er meint nicht das Drama, das sich um die Flüchtlinge abspielt, noch die zerstrittene Europäische Union. Ihm geht es in der Predigt um Seitensprünge, um Sex, um die Ehe. Auf den Stufen vor der Kirche betteln syrische Kinder.

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