Asylverfahren:Das fatale Fließbandsystem des Bamf

Asylum seekers wait in front of the Federal Office for Migration and Refugees (BAMF) at Berlin's Spandau district

Warten, tagelang. Im Sommer und Herbst 2015 drängen sich vor dem Berliner Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Menschen. Viele Ämter kommen in diesen Tagen an ihre Grenzen.

(Foto: REUTERS)

Um Mitarbeiter wie üblich zu schulen, war wegen der vielen Flüchtlinge keine Zeit. Der Fall Franco A. zeigt nun, wozu das führt - und offenbart Grabenkämpfe innerhalb der Behörde.

Von Thomas Öchsner, Berlin, und Bernd Kastner, Nürnberg

Der Auftrag war erledigt, die Bundesregierung zufrieden, denn es war Ruhe eingekehrt an der Asylfront. Im beginnenden Frühjahr 2017 arbeitete das Bamf, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, recht geräuschlos, und das war das Verdienst von Frank-Jürgen Weise. Er war als Chef der Arbeitsagentur im September 2015, auf dem Höhepunkt der Asylkrise, als Retter im Zweitjob zum Bamf gerufen worden. Alles lief gut, also ruhig - bis Ende April Franco A. alias David Benjamin aufflog. Da hatte der 65-jährige Weise das Bamf schon wieder verlassen.

Weise habe seinen Auftrag erfüllt, das räumen auch seine Kritiker im Bundesamt ein. Ihr Lob ist jedoch vergiftet: Gut erledigt im Sinne der Regierung Merkel, das ja. Aber ganz und gar nicht im Sinne der Flüchtlinge und Bamf-Mitarbeiter. Von "Systemfehlern" sprechen sie im Amt, verantwortlich seien Weise und, hinter ihm, die Politik. Hört man jenseits offizieller Verlautbarungen hinein ins Bamf, lernt man ein zerrissenes Haus kennen. Man stößt auf Mitarbeiter, die für ihre Aufgabe brennen und die Misere haben kommen sehen: "Damit war zu rechnen", sagt ein Insider über die jetzt publik werdenden Pannen. Ein anderer meint: "Das tut einem persönlich weh."

Die 80 Minuten am 7. November 2016, die Zeit von 13.40 bis 15 Uhr, werden in die Behördengeschichte eingehen: Da hat ein von der Bundeswehr ausgeliehener Bamf-Mitarbeiter den vermeintlichen Syrer "David Benjamin" angehört. Es war der Anfang eines Desasters, das mit "Benjamins" Enttarnung als terrorverdächtiger deutscher Offizier endete. "Hier sind schwere Fehler passiert. Das muss ich auch verantworten", sagt Weise, der inzwischen dem Bundesinnenministerium als "Beauftragter Flüchtlingsmanagement" dient. Bei allem Entsetzen: Vielleicht werden viele den 7. November 2016 irgendwann als Glückstag empfinden, weil er das Amt zu einem ehrlichen Blick auf seine internen Abläufe gezwungen hat.

Jahrelang gab es nur wenig Geld und Personal fürs Amt

Die Probleme begannen im Herbst 2015 mit dem politischen Auftrag, Hunderttausende offene Asylanträge schnellstmöglich zu erledigen. "Wir schaffen das!" Merkels Satz war auch Befehl fürs Bamf. Weise stellte Tausende neue Mitarbeiter ein oder lieh sie aus von anderen Behörden. Viele wurden einfach reingewinkt ins Amt, nach Aktenlage, ohne Vorstellungsgespräch (was daran erinnert, wie eine Zeit lang syrische Flüchtlinge ins Land gelassen wurden). Die Personalexplosion dürfte einzigartig in der deutschen Behördengeschichte sein, ein Aufblähen, getrieben von Politikern und Journalisten und ihren Fragen: Wann kriegt ihr das endlich auf die Reihe?

2015 hat keine bestens organisierte Behörde auf gut eine Million Flüchtlinge gewartet. Die Politik hatte jahrelang keinen Anlass gesehen, groß Geld und Personal ins Bamf in Nürnberg zu investieren, es waren ja nur wenige Flüchtlinge gekommen. Als "Sanierungsfall" beschreibt Weise, was er vorfand. "Kein Vorgesetzter kümmerte sich darum, wie effektiv ein Mitarbeiter gearbeitet hat, ob der fleißig oder faul war. Das ging zulasten der Geflüchteten. Wer hat hier an die Menschen gedacht, die morgens um vier Uhr irgendwo in Deutschland Schlange stehen? Diese ganze Notlage ist doch erst entstanden, weil andere ihre Arbeit nicht richtig gemacht haben." Der Manager Weise traf auf eine deutsche Behörde. Es knirschte und krachte.

Hauptsache, viel machen - was, ist egal

Hätte man die neuen Mitarbeiter wie üblich geschult, wäre alles kollabiert, womöglich auch Merkels Kanzlerschaft. Das Bamf schickte die Neuen meist nach ein bis zwei Wochen Kurzkurs in die Anhörungen mit Flüchtlingen oder ließ sie Bescheide erstellen. "Du bist gut, wenn du viel machst": So beschreibt ein Insider das Arbeitsethos. "Was du machst ist egal." Die Masse zählte.

Die Mammutaufgabe war zu schaffen, aber zu einem hohen Preis. Das sagt inzwischen auch Weise: "Es war von Anfang klar, dass die schnellen Neueinstellungen und kurzen Schulungen auf Kosten der Qualität gehen müssen. Die Alternative wäre aber gewesen, weiter verzögerte Asylverfahren zu haben." Natürlich sei durch diese Veränderungsprozesse das Risiko von Fehlentscheidungen gestiegen.

Dieses Risiko beginnt schon bei der Anhörung eines Flüchtlings, den entscheidenden Stunden für den Menschen und das Amt. Wenn das Interview nicht sorgfältig geführt und protokolliert wird, aus Zeitdruck nicht mal ermittelt wird, ob einer wirklich aus Syrien stammt, dann fehlt die Grundlage für einen belastbaren Bescheid.

Die Entscheider haben die Flüchtlinge nie zu Gesicht bekommen

Als eines der Grundübel in der Asylfabrik gilt Experten, dass mehrere Bamf-Mitarbeiter einen Fall bearbeiten. Um Tempo zu machen, wurde umstrukturiert: Einer interviewt, ein anderer beurteilt. In Entscheidungszentren richten sie über Flüchtlinge, die sie nie zu Gesicht bekommen, von denen sie keinen persönlichen Eindruck haben. Hat einer glaubwürdig von seiner Angst in der Heimat berichtet? Vom Überfall der Taliban? Viele Entscheider fällten ihr Urteil über Monate beinah im Blindflug. Inzwischen, erklärt eine Bamf-Sprecherin, würden 70 Prozent der Bescheide wieder vom Anhörer geschrieben. Ein Mitarbeiter vergleicht das Asylverfahren mit dem in einem Gericht: Unvorstellbar, dass ein Richter in der Verhandlung die Fragen stellt, und Wochen später ein anderer Richter urteilt. Dabei ist der Asylbescheid ein Schicksalsurteil. Mitunter auch für den Staat - siehe Franco A.

Auch ohne politischen Druck und mangelhafte Schulung sind die Verfahren kompliziert. Das Leben eines Menschen wird in ein amtliches Schema gepresst. Der Flüchtling spricht von "Angst", das Amt bemüht sich um die "Herstellung von Entscheidungsreife". Der Flüchtling berichtet vom gekenterten Boot, das Amt arbeitet an "Aufgabenpaketen". Es gelte sicherzustellen, "dass die Mitarbeiter mit hinreichend Antragstellern zur Anhörung im Tagesverlauf versorgt werden". So steht es in einer Dienstanweisung vom August 2016. Das Fließband muss laufen.

Grabenkämpfe zwischen den Altgedienten, Sorgfältigen und den Neuen

Zur unvermeidlichen Kollision von Leben und Amt kommt, dass der Übergang von der Anhörung zur Entscheidung fehleranfällig ist: Ein Flüchtling berichtet in seiner Sprache, mal Arabisch, mal Dari, ein Dolmetscher übersetzt, der Anhörer bringt es auf Deutsch sinngemäß zu Papier, der Dolmetscher übersetzt zurück, und das Endergebnis hat der Entscheider als Protokoll auf dem Tisch. Das ist selbst dann kompliziert, wenn sämtliche Bamf-Beteiligten geschult und erfahren sind. Bei "Benjamin David" kamen Anhörer und Entscheider von Bundeswehr und Arbeitsagentur, und 80 Minuten Befragung sind zu fünf Seiten geronnen, wobei zwei Seiten nur Formales enthalten.

Das alles geschieht in einem Amt, in dem Asylexperten von außen "Grabenkämpfe" beobachten: zwischen altgedienten Länderspezialisten, die zu Sorgfalt erzogen wurden, und Neuen, die das Bamf nur als Erfüllungsmaschine für Zielzahlen kennen.

Negativ für das Betriebsklima ist auch, dass sich viele Kollegen als Konkurrenten sehen. Vor allem unter jenen, die mit befristeten Verträgen neu eingestellt wurden, sei der Wettkampf um gute Bewertungen und die Gunst der Vorgesetzten "ausgeprägt", heißt es im Personalrat. Ziel ist der dauerhafte Vertrag. Die "Bestenauslese" motiviert zu Überstunden und treibt das Fließband an. "Es ging immer nur um Zahlen, Zahlen, Zahlen", sagt ein Insider, ein anderer ahnt: "Da wird noch viel kommen." Er meint fehlerhafte Bescheide, die nun nach und nach entdeckt werden dürften. Derzeit prüfen sie im Bamf 2000 positive Asylbescheide von Syrern und Afghanen. Etwa jeder zehnte gilt als fehlerhaft, so die Zwischenbilanz.

Mehr als zwei afghanische Flüchtlinge an einem Tag sind nicht zu schaffen

Aus eigener Erfahrung wisse er, sagt der Entscheider, dass man nicht mehr als zwei afghanische Flüchtlinge an einem Tag anhören könne, weil Afghanistan ein kompliziertes Land sei. Wenn nun aber die Erwartung bei drei Anhörungen oder 3,5 Entscheidungen pro Tag liege, könne nur Untaugliches herauskommen. Die Bamf-Sprecherin erklärt, man mache nicht die Erfahrung, "dass diese Orientierungswerte zu einer fehleranfälligen Arbeitsweise führen".

Ein weiterer Riss im Bamf verläuft zwischen der Amtsleitung und dem Personalrat: Der fuhr und fährt den Chefs immer wieder in die Parade, bei Neueinstellungen etwa, hat damit oft Erfolg vor Gericht - und Weise bisweilen zur Weißglut gebracht: "Es gab permanent Widersprüche und kein wirklich geordnetes Verfahren", sagt dieser. "Das ist sicherlich nicht gut gelaufen." Inzwischen aber ist auch der Personalrat zufrieden, wie Neueinstellungen laufen: "Wir sind jetzt auf der richtigen Spur", sagt Rudolf Scheinost, der Vorsitzende.

Frank-Jürgen Weise klingt nach getaner Arbeit selbstkritisch zufrieden: "Ich wollte bei der Lösung des Flüchtlingsproblems nie der Held sein und habe mich auch nicht als solcher dargestellt. Deshalb berührt es mich schon, wenn geschrieben wird, der Weise ist jetzt entzaubert." Und dann sagt er noch: "Wenn man um Hilfe gebeten wird, hilft man. Ich würde es deshalb wieder machen, keine Frage. Aber ich würde versuchen, es besser zu machen."

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