Asylrecht:Die Abschiebe-Lotterie

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Flüchtlinge werden auf diesem Bild vor der Mittelmeer-Insel Lampedusa gerettet, (Foto: dpa)
  • Die faire Verteilung von Asylbewerbern auf EU-Staaten führt weiter zu Diskussionen.
  • Deutsche Gerichte finden keinen einheitlichen Weg, auch die Verfassungsrichter in Karlsruhe können nicht helfen.
  • An einer Lösung der Probleme soll nun auf Ebene der Europäischen Union gearbeitet werden.

Von Wolfgang Janisch

Der Tod Hunderter Flüchtlinge auf dem Mittelmeer hat - wieder einmal - die Diskussion über eine faire Verteilung der Asylbewerber auf die EU-Staaten angestoßen.

Die Aussichten auf eine politische Lösung sind freilich nicht sonderlich gut, in vielen Staaten regt sich Widerstand gegen höhere Aufnahmequoten.

Momentan praktiziertes Dublin-System ist überfällig

Dabei ist das Dublin-System, nach dem die Flüchtlinge verteilt werden, längst selbst notleidend geworden. "Das Dublin-System funktioniert nicht mehr", sagt Reinhard Marx, einer der führenden Anwälte für Asylrecht.

Ein erst wenige Tage alter Beschluss des Bundesverfassungsgerichts illustriert, wie der rigide Abschiebe-Automatismus des europäischen Asylsystems auch besonders "verletzliche" Flüchtlinge in neue Notsituationen zu bringen droht.

Aufgenommen, aber nicht angenommen: Flüchtlinge demonstrieren in Rom gegen die chaotischen Verhältnisse in Italiens Asylheimen. (Foto: Alberto Pizzoli/AFP)

Eine somalische Familie mit zwei Kleinkindern sollte nach Italien zurückgeschoben werden, weil sie - so funktioniert "Dublin" - dort zuerst europäischen Boden betreten hatte. Karlsruhe intervenierte, eine Kammer des Ersten Senats mit dem zuständigen Richter Ulrich Maidowski stoppte die Abschiebung: Es müsse genauer geprüft werden, ob die Anordnung möglicherweise willkürlich sei.

Das Karlsruher Veto ist eine Reaktion auf die zunehmend prekäre Situation, die Asylbewerber in Italien erwartet. Wie ein Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013 deutlich macht, sind dort die Aufnahmebedingungen unzureichend, gerade für Familien mit Kindern.

In Mailand beispielsweise werden Familien grundsätzlich getrennt, falls sie überhaupt einen Platz finden - die Wartelisten sind lang. In Rom, so schätzt der Bericht, gibt es mehr als 2000 obdachlose Flüchtlinge. Andere kommen in "besetzten Häusern" unter, die freilich gerade für alleinerziehende Mütter beträchtliche Risiken bergen: In den selbstverwalteten Häusern herrsche ein rechtsfreier Raum, der Gewalt gegen Frauen begünstige.

Familien mit Kleinkindern sollen besser geschützt werden

Bei Familien mit Kleinkindern dringt Karlsruhe daher darauf, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von den italienischen Behörden eine konkrete Zusage für eine gesicherte Unterkunft einholt. Und zwar sogar dann, wenn das Gericht die Anträge der Asylbewerber eigentlich abweist, weil sie die hohen Zugangsvoraussetzungen nicht erfüllen: Vor einigen Monaten - es ging um zwei äthiopische Familien mit Kleinkindern - erteilten die Richter dem Bundesamt den "Hinweis", "jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren" für eine gesicherte Unterkunft in Italien zu sorgen. Womit die Abschiebung zumindest vorerst verhindert war.

Die Fälle zeigen freilich auch: Karlsruhe ist beim Thema Flüchtlinge in die Rolle des Nothelfers gerückt. Die Zahl der Asylverfahren in Karlsruhe ist im vergangenen Jahr um 70 Prozent angestiegen. Die Ursache dafür liegt im komplizierten Geflecht eines Asylverfahrens, das mit der Berechenbarkeit, die ein Rechtssystem gemeinhin auszeichnet, nur noch wenig gemein hat - eher gleicht es einer Lotterie.

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Schutz vor Abschiebung beantragen die Anwälte der Flüchtlinge ganz überwiegend im Eilverfahren vor den Verwaltungsgerichten. Dort urteilen Einzelrichter, zudem ist der Zugang zur Berufungsinstanz stark eingeschränkt. Recht ist also, was ein einzelner Richter dafür hält - das führt zu einer zersplitterten Judikatur. Selbst Richter, die sonst in einer Kammer zusammensitzen, entscheiden zuweilen gegensätzlich.

Gerichte finden keinen einheitlichen Weg

Beispiel Italien: Mehrere Verwaltungsgerichte - etwa jene in Minden, Gelsenkirchen, Gießen und Leipzig - haben in den letzten Monaten Abschiebungen nach Italien ausgesetzt. Sie folgten dabei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der im November 2014 Abschiebungen nach Italien ebenfalls infrage gestellt hatte.

Andere Gerichte haben aber genau entgegengesetzt entschieden - trotz Straßburg: Italien sei ein "sicherer Drittstaat", daran änderten "vereinzelt bestehende Unzulänglichkeiten" nichts, entschied etwa das Verwaltungsgericht Münster im Dezember 2014.

Ähnlich desperat ist die Lage bei Ländern wie Bulgarien, Polen, Malta und vor allem Ungarn. Einige Gerichte schieben ab, andere stoppen die Abschiebung. Wissenschaftler und Praktiker fordern bereits, auch in Eilverfahren eine Überprüfung durch eine zweite Instanz einzuführen - was die Verfahren wahrscheinlich sogar beschleunigen würde, weil dann klare Kriterien gelten würden.

Im rechtsstaatlichen Überdruck, den gegensätzliche Entscheidungen und fehlende Kontrolle erzeugen, dient das Bundesverfassungsgericht als Ventil - die Kläger ziehen nach Karlsruhe, wohin auch sonst.

Allerdings fehlt den höchsten Richtern inzwischen wohl die Macht zur grundsätzlichen Klärung der verworrenen europäischen Verhältnisse; das Asylgrundrecht ist, seit seiner Reform in den 90er-Jahren, nur noch ein Torso. Zudem ist das Verfassungsgericht an Verfahrensregeln gebunden, die den Weg zur Grundsatzentscheidung verbauen: Die Fälle, die in Karlsruhe anlanden, sind oft unzureichend aufbereitet, was häufig dem Zeitdruck geschuldet ist, unter dem Gerichte und Anwälte in Abschiebefällen arbeiten. Das Bundesverfassungsgericht aber ist auf die substanzielle Vorarbeit angewiesen.

Lösung der Flüchtlings-Problematik könnte auf europäischer Ebene liegen

Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass Karlsruhe doch noch einen Fall in die Hände bekommt, der eine grundsätzlichere Klärung ermöglicht. 2010 stand das Verfassungsgericht im Fall von Griechenland kurz davor, das Verhältnis von deutschem und europäischem Asylrecht auszuleuchten - doch als Deutschland die Abschiebungen nach Griechenland aussetzte, wurde das Verfahren eingestellt.

Damals deutete das Gericht freilich an, dass der Schlüssel zu einer Lösung eher nicht in Karlsruhe liegt. Probleme mit der Überforderung eines Staates bei der Aufnahme von Asylbewerbern seien "vornehmlich auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen", schrieb der Zweite Senat. Also in Brüssel. Oder in Luxemburg, beim Europäischen Gerichtshof.

© SZ vom 04.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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